sabato 21 dicembre 2013

SKDP/20/002-10. § 20. Kurd Laßwitz: “Die Weltprojekte”

Home / 1921/ Lessico
Kurd Laßwitz
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Gutenberg Spiegel e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/10. - Nostra numerazione del Brano: 20. Reader: Dirk Weber / download  di “Die Weltprojekt” (10).  Etext: Gutenberg Spiegel/Laßwitz  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

Die Weltprojekt
Kurd Laßwitz
(1848-1910)

Als die Welt geschaffen wurde, mußte selbstverständlich zuvor das Projekt sein.

Natürlich nicht bloß eins. Es gab unendlich viele mögliche Welten in unendlich vielen möglichen Räumen. Und da es sich um eine wichtige Sache handelte, so hatten die Oberengel den Auftrag, sie sämtlich bis ins einzelne auszuarbeiten.

Die Zeit drängte nicht, denn das Maß der Erddrehung war noch nicht erfunden, und so gedachte der Herr, die beste aller möglichen Welten auszusuchen, um sie als die einzig wirkliche Welt zu schaffen.

Die beste erkannte er freilich auf den ersten Blick. Darin gab's nämlich gar keinen Widerspruch, keine Reibung, keine Störungen, keine Schmerzen, keine Dummheiten; nichts als blitzblaue Seligkeit und Zufriedenheit; und dabei wußte niemand, womit er eigentlich zufrieden war. Denn alle waren immer einig, und es war ganz unmöglich, sich über etwas zu ärgern.

Schon wollte er diese Welt des höchsten Glücks aller ausführen, als er sich erst den Kostenanschlag ansah. O weh! Die vollkommenste Welt war leider die teuerste von allen. Sie war wirklich zu teuer. Sie brauchte nämlich einen fortwährenden baren Zuschuß, weil ja kein Wunsch unbefriedigt bleiben durfte. Das konnte sich nur eine Aktiengesellschaft leisten, und die ließ sich nicht schaffen; auch wäre die Welt sonst nicht mehr vollkommen gewesen.

Es wurden also die zu teuren Welten von vornherein ausgeschieden, ebenso die zu billigen, denn die waren Schundware. Dann noch ein paarmal engere Wahl, und schließlich behielt der Herr zwei übrig. Er nannte sie Projekt A und Projekt B. Die wurden in Lebensgröße ausgeführt.

Zunächst sollten sie nun einmal Probe laufen.

Es wurde also die Gesamtenergieverteilung für den Anfangszustand zur Zeit Null eingestellt, und dann wurde die Zeit angelassen. Zuerst bei der Welt A. Da ging's los, und die Welt schnurrte ab, daß es eine Freude war.

Als das so ein paar Dezillionen Jahre gedauert hatte, was ja doch bei einem Weltversuch noch nicht viel sagen will, da machte der Herr eine kleine Stichprobe. Er griff mal so gerade in eins der unendlich vielen Milchstraßensyteme hinein, holte sich eine Sonne heraus, nahm einen von ihren Planeten und betrachtete sich das Zeug näher, das darauf wuchs und herumkrabbelte. Es sah beinahe aus wie auf unserer Erde.

»Wie gefällt's euch da?« fragte der Herr. »Ist's nicht ne schöne Welt?«

»Danke der gütigen Nachfrage«, antwortete eine Stimme. »Will mal nachsehen.«

»Was? Nachsehen? Ihr werdet doch wissen, wie's euch gefällt?«

»Ich will im Gefühlskalender nachschlagen, was ich zu antworten habe. Hier steht's schon: Eine schauderhafte Welt ist es.«

»Was soll das heißen?«

»Ich will mal im Verstandeskalender nachschlagen. Also: Wegen der absoluten Gesetzmäßigkeit der mathematischen Logik, die dem Weltprojekt zugrunde gelegt ist, sind alle Ereignisse und alle Gefühle von vornherein bestimmt, und man kann sie sowohl für die künftige wie für die vergangene Zeit in den automatischen Reproduktionsregistern aufsuchen. Wenn ich also wissen will, warum ich meine Ansicht habe, so brauche ich bloß –«

»Aber was willst du damit gewinnen? Du mußt doch selbst entscheiden –«

»Was ich will? Ich werde im Willenskalender nachschlagen –«

»Ich meine, warum ihr die Welt schauderhaft findet.«

»Eben darum, weil sie so absolut korrekt ist, daß man alles aus dem Wirklichkeitskalender erfahren kann. Auch was man wollen muß – man weiß es ja nicht gerade vorher, aber man kann's doch wissen, wenn man's nachschlägt.«

»Dafür seid ihr vor allen Torheiten geschützt.«

»Aber man lebt ja gar nicht, man sucht nur immer in den Kalendern; und wenn man gesehen hat, wie's kommen wird, so möchte man's gar nicht erst erleben. Da sehe ich zum Beispiel aus dem Willenskalender, daß ich morgen beim Festessen zu Ehren unseres Direktors eine Rede halten will, aber aus dem Gefühlskalender erfahre ich, daß ich mich blamieren und dabei den Mann noch bedenklich vor den Kopf stoßen werde.«

»Da mußt du es lassen oder die Rede abändern.«

»Das ist eben das Schauderhafte. Ehe ich nun im Verstandskalender finde, ob und wie das sein kann! Nichts läßt sich ändern in dieser Welt! Das kleinste Fleckchen oder Stäubchen wirkt nach in alle Ewigkeit, irgendwo bleibt's hängen.«

»Aber das vergißt man doch.«

»Vergessen! Ja, wenn wir eine Bewußtseinsschwelle hätten! Aber selbst wenn man's vergessen könnte, es steht doch immer in den Weltplänen, und irgend jemand kann's auffinden. Nein, nein! Alles erfahren, aber nichts ändern können, das ist schlimm. Und wenngleich alles noch so vorzüglich gut ist, eine Welt, in der man nichts besser machen kann, ist doch schauderhaft!«

Da setzte der Herr den Planeten wieder an seinen Platz, die Sonne in ihr System und die Milchstraße in ihren Raum und stellte die Zeit ab, daß die Welt außer Betrieb gesetzt war.

»Nein«, sagte er zu dem Oberengel, der das Projekt A gemacht hatte, »die beste Welt ist das nicht. Wir wollen einmal das Projekt B probieren.«

Diese Welt sah von außen ganz ähnlich aus wie A, denn sie war auch nach dem Prinzip der ineinandergeschachtelten und bewohnten Sternsysteme gebaut. Der Engel ließ also die Zeit laufen, und als ein Dutzend Zentillionen Jahre vorbei waren, langte sich der Herr wieder einen Planeten heraus und betrachtete sich die Lebewesen darauf.

»Na, wie geht's?« fragte er. »Wie gefällt euch die Welt?«

»Schauderhaft, ganz schauderhaft!« schrie eine große Anzahl Stimmen durcheinander.

»Nun, nun!« sprach der Herr beruhigend. »Immer einer nach dem andern!«

Aber das half nichts. So klagten alle gleichzeitig, bis er sich so ein Persönchen herausnahm. Das war nun auf einmal ganz vergnügt, und als es der Herr fragte, wie ihm die Welt gefiele, da rief es:

»Ach, so ist es ganz wunderschön! Jetzt bin ich für mich, da ist ja alles gleich vorhanden, was ich wünsche. Will ich mal tüchtig arbeiten, so ruckt und zuckt mir's in allen Muskeln, und das Gehirn müdet sich ab. Will ich ruhen und sage, hier soll ein hübsches Häuschen stehen in einem großen, stillen Park und ein bequemer Schlafstuhl auf der Veranda, so lieg' ich gleich dort und rauche meine Havanna. So ist's ganz ausgezeichnet hier.«

»Warum rieft ihr denn alle: Schauderhaft! Schauderhaft!«

»Ja, Herr, sobald einer von uns für sich allein etwas wünscht, da haben wir ja alles; es steigt willig hervor, und nichts kann sich stören. Wenn wir aber da im Raum auf der Wohnkugel zusammenstecken, da stoßen die schönen Gedanken und Phantasien, all die köstlichen Träume meiner Seele zusammen mit den ebenso mächtigen meiner Mitbewohner und geraten in Wettbewerb. Wo ich meinen Garten habe, da läßt der Nachbar seine sechs Jungen Ball schlagen und nach Herzenslust schreien. Denn es gibt ja kein Mittel, zu verhindern, daß das geschieht, was jeder sich ausdenkt. Die Vorstellung genügt, um das Mögliche zum Dasein zu bringen. So besteht allhier nichts Sicheres, nichts Gewisses! Also tu mir die einzige Gnade an und nimm all die anderen Bewohner aus der Welt, damit ich in meiner schönen Eigenwelt nicht beeinträchtigt werde!«

»Ha, hm!« sagte der Herr bedenklich und brachte das Persönchen wieder in das Weltsystem an seine Stelle, wo es sofort aufs neue zu lamentieren anfing.

»Das ist also auch nichts Rechtes mit dem Projekt B«, sprach der Herr und stellte die Zeit ab.

Die beiden Oberengel machten einigermaßen unzufriedene Gesichter, soweit das anging, und erboten sich sogleich, neue Projekte einzureichen.

Aber der Herr meinte: »Ach was, das hat ja keine Eile mit der Weltschöpfung. Diese eure Welten taugen beide nichts. Vielleicht fällt euch später was Besseres ein. Vorläufig geht's auch so.«

Damit nahm er die beiden Weltmodelle und setzte sie der Bequemlichkeit wegen ineinander in die Himmelsrumpelkammer.

Nach ein paar Dezillionen Jahren blickte der Herr zufällig wieder in diese Ecke und merkte, daß die beiden zurückgesetzten Welten im Gange waren.

Er rief sich die beiden Engel und fragte, wer sich denn erlaubt habe, die Zeit anzulassen, so daß die Welten weiter Probe liefen.

»Ich habe nur meine übrige Zeit genommen«, sagte der vom Projekt A etwas ängstlich.

»Ich auch nur meine«, sagte der vom Projekt B desgleichen.

»Ja«, riefen sie beide, »wir wollten bloß einmal versuchen, welche es besser aushält, wenn sie gleichzeitig liefen.«

»So?« sprach der Herr gütig. »Da wollen wir doch einmal nachsehen, was daraus geworden ist.«

Und er griff wieder in das kombinierte Weltsystem und holte sich einen Bewohner heraus. Daß er immer den richtigen traf, verstand sich ja von selbst.

»Nun?« fragte er. »Wie geht's bei euch jetzt?«

»Ausgezeichnet«, antwortete der Mensch; denn ein solcher war es.

»Wie kommt das? In der Welt A jammerten sie doch, es sei alles so notwendig bestimmt, daß nichts geändert werden könnte, und in der Welt B klagten sie, weil alles, man mag sich ausdenken, was man wolle, gleich da sei und deshalb nichts Festes zusammenstimme.«

»Ja, Herr, das haben wir eben ausgeglichen. Wir haben aus den beiden Welten eine neue gemacht, unsere eigene. Wir bilden nämlich eine besondere Gesellschaft für Weltverbesserung.«

»Das wäre! Wie denn?«

»Sehr einfach. Die Welten laufen nun mal, darauf sind wir angewiesen. Aber nun nehmen wir aus B die Phantasie, und aus A nehmen wir das Gesetz. So bewirken wir die Ergänzung. Was wir als wünschenswert vorstellen, machen wir auch wirklich, und das Unabänderliche nutzen wir zum Vernünftigen.«

»Nicht übel! So steuert ihr ja gerade auf die vernünftige Welt los, die ich erwarte. Na, so mögt ihr sie euch denn selber schaffen, ich will sie bestätigen. Und wer bist du denn eigentlich?«

»Ich bin der Ingenieur.«

SKDP/19/002-9. § 19. Berthold Auerbach: “Vom Grüßen”

Home / 1820/ Lessico
Berthold Auerbach
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Gutenberg Spiegel e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/9. - Nostra numerazione del Brano: 19. Reader: Dirk Weber / download  di “Vom Grüssen” (9).  Etext: Gutenberg Spiegel/Auerbach  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

§ 19.
Vom Grüßen
Berthold Auerbachl
(1812-1882)

Es ist eine schöne Sache, daß Menschen, die sich begegnen, einander begrüßen. Wenn sie einander kennen, soll mit dem Grüßen wohl gesagt sein: Freut mich, daß du auch noch da und wohlauf bist. Wenn sie einander nicht kennen und vielleicht auf einsamem Wege zusammentreffen, so sagt der Gruß: Freut mich überhaupt, daß du da bist; wir sind Lebensgenossen.

Fragt dich aber ein Bekannter: »Wie geht's?« – so sieh zu, ob er denn wirklich wissen will, wie's dir geht. Hast du ein Leid erfahren oder einen Kummer in der Seele und du sagst ehrlich, wie dir zumute ist, so kann es leicht kommen, daß der Grüßende dich verwundert oder gar verdrossen ansieht; denn er wollte ja eigentlich nicht wissen, wie's dir geht, das ist nur so eine Redensart. Darum ist das Beste, wenn du auf die Frage wie geht's, die Antwort gibst: »Ich danke.« Damit bist du fertig und hast nicht nötig zu lügen, indem du gut antwortest, wenn es dir in der Tat nicht gutgeht. Kannst dich darauf verlassen, der Fragende ist mit der Antwort, »ich danke«, in der Regel vollkommen zufrieden.

Es gibt aber auch wohlgemeinte Grüße.

Wenn du am Hause des Hagenmaier vorübergehst und er steht unter der Halbtür und grüßt dich heraus, so darfst du annehmen, er meint's im Ernst; dagegen kannst du dich darauf verlassen, daß der Oberbauer von Windenreuten, wenn du ihm begegnest – zumal wenn er die Stufen vom Wirtshaus heruntersteigt – und du grüßt ihn, stets die Pfeife im Mund hält und denkt: Was will denn der? Der will gewiß was von mir, weil er mich grüßt.

Der schönste von allen Grüßen ist und bleibt immer, wie die Mutter ihr Kindchen grüßt, wenn sie es mit schlaf geröteten Wangen aus dem Bettchen hebt und sich eben freut, daß es frisch gestärkt wieder auflebt und lacht und gedeiht.

Es gibt eben verschiedene Grüße. Es gibt einen Gruß im Flug, der sehr höflich scheint; der Grüßende macht ein gar freundliches Gesicht, grinst und zeigt seine Zähne; wer weiß, was er wirklich denkt. Aber was tut's? Man kommt nicht weit in der Welt und trägt schwer am Leben, wenn man sich immer vergegenwärtigen will: was geht in dem anderen vor.

Wie vielerlei Lug und Trug wird in der Welt verbraucht, und das Leben ist doch so kurz; die Station, die zum Aufenthalt gegeben, ist so knapp bemessen.

Da begegnen sich zwei Männer. »Empfehle mich höflichst« – »Gehorsamer Diener« heißt es hin und her, und innerlich lachen sie übereinander, verwünschen vielleicht einander und wünschen sich gegenseitig zum Teufel. Die einfältigste Redensart ist doch »gehorsamer Diener«, denn will der, der »gehorsamer Diener« sagt, wirklich das sein? Sage nicht, das sind bloße Redensarten; es kann dich niemand zu einer hohlen Redensart zwingen, wenn du nicht willst.

Nun sieh dir einmal den Hochmutsnarren an, der daherstolziert, als ob er eigentlich ganz allein auf der Welt wäre und die anderen gar kein Recht hätten, auch dazusein; er grüßt nur, indem er mit seinem Augenglas winkt, das ist ihm schon vollständig genug für die Aufdringlichen, die sich anmaßen, auch zu leben. –

Da kommt ein anderer. Ihn hat ein gutmütiger Alter freundlich begrüßt und geht an seinem Stock weiter, der Begrüßte aber macht ein schiefes Maul, wendet sich noch einmal verächtlich zurück: Was tut denn der alte Mann noch auf der Welt, der hätte auch schon lange adje sagen können, und wie kommt der dazu, dich zu grüßen? –

Und wieder ein anderer wird vor einem Bittsteller begrüßt, gar untertänig, und er fühlt sich um so erhabener und läßt sich's gefallen, daß ihm der Bittende seinen dringenden Wunsch vorträgt.

Auf Weg und Steg wird man gewahr, in welch närrischer Welt wir leben, wo die Menschen statt einander die kurze Zeit je nach Kräften, und sei es nur mit guten Worten und freundlichen Mienen, das Dasein zu verschönern, aus allerlei Hochmut und Herzenskälte sich dasselbe verderben. Das beste ist, man kümmert sich nicht drum, man geht nach Herzenslust seines Weges und tut seine Pflicht. 

SKDP/18/002-8. § 18. Georg Trakl: “Verlassenheit”

Home / 1719/ Lessico
Georg Trakl
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Gutenberg Spiegel e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/8. - Nostra numerazione del Brano: 18. Reader: Herr Klugbeisser / download  di “Verlassenheit” (8).  Etext: Gutenberg Spiegel/Trakl  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

Verlassenheit
Georg Trakl
(1887-1914)

Nichts unterbricht mehr das Schweigen der Verlassenheit. Über den dunklen, uralten Gipfeln der Bäume ziehn die Wolken hin und spiegeln sich in den grünlich-blauen Wassern des Teiches, der abgründlich scheint. Und unbeweglich, wie in trauervolle Ergebenheit versunken, ruht die Oberfläche – tagein, tagaus.

Inmitten des schweigsamen Teiches ragt das Schloß zu den Wolken empor mit spitzen, zerschlissenen Türmen und Dächern. Unkraut wuchert über die schwarzen, geborstenen Mauern, und an den runden, blinden Fenstern prallt das Sonnenlicht ab. In den düsteren, dunklen Höfen fliegen Tauben umher und suchen sich in den Ritzen des Gemäuers ein Versteck.

Sie scheinen immer etwas zu befürchten, denn sie fliegen scheu und hastend an den Fenstern hin. Drunten im Hof plätschert die Fontäne leise und fein. Aus bronzener Brunnenschale trinken dann und wann die dürstenden Tauben.

Durch die schmalen, verstaubten Gänge des Schlosses streift manchmal ein dumpfer Fieberhauch, daß die Fledermäuse erschreckt aufflattern. Sonst stört nichts die tiefe Ruhe.

Die Gemächer aber sind schwarz verstaubt! Hoch und kahl und frostig und voll erstorbener Gegenstände. Durch die blinden Fenster kommt bisweilen ein kleiner, winziger Schein, den das Dunkel wieder aufsaugt. Hier ist die Vergangenheit gestorben.

Hier ist sie eines Tages erstarrt in einer einzigen, verzerrten Rose. An ihrer Wesenlosigkeit geht die Zeit achtlos vorüber.

Und alles durchdringt das Schweigen der Verlassenheit.

Niemand vermag mehr in den Park einzudringen. Die Äste der Bäume halten sich tausendfach umschlungen, der ganze Park ist nur mehr ein einziges, gigantisches Lebewesen.

Und ewige Nacht lastet unter dem riesigen Blätterdach. Und tiefes Schweigen! Und die Luft ist durchtränkt von Vermoderungsdünsten!

Manchmal aber erwacht der Park aus schweren Träumen. Dann strömt er ein Erinnern aus an kühle Sternennächte, an tief verborgene heimliche Stellen, da er fiebernde Küsse und Umarmungen belauschte, an Sommernächte, voll glühender Pracht und Herrlichkeit, da der Mond wirre Bilder auf den schwarzen Grund zauberte, an Menschen, die zierlich galant voll rhythmischer Bewegungen unter seinem Blätterdache dahinwandelten, die sich süße, verrückte Worte zuraunten, mit feinem verheißenden Lächeln.

Und dann versinkt der Park wieder in seinen Todesschlaf.

Auf den Wassern wiegen sich die Schatten von Blutbuchen und Tannen und aus der Tiefe des Teiches kommt ein dumpfes, trauriges Murmeln.

Schwäne ziehen durch die glänzenden Fluten, langsam, unbeweglich, starr ihre schlanken Hälse emporrichtend. Sie ziehen dahin! Rund um das erstorbene Schloß! Tagein, tagaus!

Bleiche Lilien stehen am Rande des Teiches mitten unter grellfarbigen Gräsern. Und ihre Schatten im Wasser sind bleicher als sie selbst.

Und wenn die einen dahinsterben, kommen andere aus der Tiefe. Und sie sind wie kleine, tote Frauenhände.

Große Fische umschwimmen neugierig, mit starren, glasigen Augen die bleichen Blumen, und tauchen dann wieder in die Tiefe – lautlos!

Und alles durchdringt das Schweigen der Verlassenheit.

Und droben in einem rissigen Turmgemach sitzt der Graf. Tagein, tagaus.

Er sieht den Wolken nach, die über den Gipfeln der Bäume hinziehen, leuchtend und rein. Er sieht es gern, wenn die Sonne in den Wolken glüht, am Abend, da sie untersinkt. Er horcht auf die Geräusche in den Höhen: auf den Schrei eines Vogels, der am Turm vorbeifliegt oder auf das tönende Brausen des Windes, wenn er das Schloß umfegt.

Er sieht wie der Park schläft, dumpf und schwer, und sieht die Schwäne durch die glitzernden Fluten ziehn – die das Schloß umschwimmen. Tagein! Tagaus!

Und die Wasser schimmern grünlich-blau. In den Wassern aber spiegeln sich die Wolken, die über das Schloß hinziehen; und ihre Schatten in den Fluten leuchten strahlend und rein, wie sie selbst. Die Wasserlilien winken ihm zu, wie kleine, tote Frauenhände, und wiegen sich nach den leisen Tönen des Windes, traurig träumerisch.

Auf alles, was ihn da sterbend umgibt, blickt der arme Graf, wie ein kleines, irres Kind, über dem ein Verhängnis steht, und das nicht mehr Kraft hat, zu leben, das dahinschwindet, gleich einem Vormittagsschatten.

Er horcht nur mehr auf die kleine, traurige Melodie seiner Seele: Vergangenheit!

Wenn es Abend wird, zündet er seine alte, verrußte Lampe an und liest in mächtigen, vergilbten Büchern von der Vergangenheit Größe und Herrlichkeit.

Er liest mit fieberndem, tönendem Herzen, bis die Gegenwart, der er nicht angehört, versinkt. Und die Schatten der Vergangenheit steigen herauf – riesengroß. Und er lebt das Leben, das herrlich schöne Leben seiner Väter.

In Nächten, da der Sturm um den Turm jagt, daß die Mauern in ihren Grundfesten dröhnen und die Vögel angstvoll vor seinem Fenster kreischen, überkommt den Grafen eine namenlose Traurigkeit.

Auf seiner jahrhundertalten, müden Seele lastet das Verhängnis. Und er drückt das Gesicht an das Fenster und sieht in die Nacht hinaus. Und da erscheint ihm alles riesengroß traumhaft, gespensterlich! Und schrecklich. Durch das Schloß hört er den Sturm rasen, als wollte er alles Tote hinausfegen und in Lüfte zerstreuen.

Doch wenn das verworrene Trugbild der Nacht dahinsinkt wie ein heraufbeschworener Schatten – durchdringt alles wieder das Schweigen der Verlassenheit.
→  SKDP/18/002-8.

SKDP/17/002-7. § 17. Arthur Schnitzler: “Um eine Stunde”

Home / 1618/ Lessico
Arthur Schnitzler
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Zeno.org meine Bibliothek e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/7. - Nostra numerazione del Brano: 17. Reader: Noonday / download  di “Um eine Stunde” (7).  Etext: Zeno.org/Schnitzler  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

Um eine Stunde
Arthur Schnitzler
(1862-1931)

Er hielt ihre Hand in der seinen und betrachtete ihr blasses Gesicht, aus dem jede Spur des Lebens geschwunden schien. Da öffnete sie noch einmal die Augen. Er wußte, wenn sich diesmal die Lider senkten, so war es für immer. Ihre Brust hob sich schwer, und er wußte: dies ist der letzte Atemzug. Da ergriff ihn eine ungeheure Angst um sie, und er betete, ohne daß seine Lippen sich bewegten: »Laß sie mir, Unerbittlicher, laß sie mir! Laß sie mir noch einen Tag, noch eine Stunde, aber nimm sie mir nicht jetzt, nicht gleich!«

Da sah er mit einem Male den Engel des Todes im Fenster stehen, der hatte sein Flehen gehört und sprach zu ihm: »Was willst du von mir? Drei Jahre war sie dein Weib. Was kann diese letzte Stunde dir, dem Lebenden, und ihr, der Sterbenden, geben?«

»Alles!« rief der Jüngling aus. »Denn diese drei Jahre waren nichts. Niemals hab' ich ihr gesagt, wie ich sie liebe, und ich hab' ihr's nicht sagen können, weil ich selbst es nicht gewußt habe. Und nun soll sie dahingehen, ohne es jemals gehört zu haben. Darum fleh' ich zu dir: Eine Stunde gib mir noch, daß ich's ihr sagen kann, und ich will dir nicht fluchen, so grausam du bist!«

Da antwortete der Engel des Todes: »Ich selbst kann dir diese Stunde nicht schenken. Denn eine so große Fülle von Leben über die Erde verstreut ist, so abgemessen ist sie, und im Unendlichen gibt es kein Zuviel und kein Zuwenig. Was du von mir verlangst, kann ich nur von einem anderen Menschen für dich erbitten, dem eben noch eine Stunde des Lebens und nicht mehr beschieden ist.«

Da leuchteten die Augen des Jünglings in neuer Hoffnung, und er sprach: »Wenn das in deiner Macht steht, so mach dich schnell auf den Weg, die Zeit geht hin.«

Der Engel schüttelte das Haupt. »Fürchte nichts. Solange ich mit dir rede, rauscht die Zeit an dir vorbei, ohne Macht über dich zu haben. Komm, ich will dich unter meine Flügel nehmen, denn[313] du mußt bei mir sein, wenn meinen Bitten Kraft innewohnen soll; aber du wirst unsichtbar sein.«

Kaum hatte der Engel des Todes diese Worte ausgesprochen, so fühlte sich der Jüngling vom Boden emporgehoben und durch die dämmernde Morgenluft davongetragen. Und noch im selben Augenblick fand er sich in einem Wald und wandelte an der Seite des Engels durch eine hohe, dunkle Allee. Da begegnete ihnen ein Mann, noch nicht alt und nicht mehr jung, der in tiefes Sinnen versunken war und erst aufsah, als ihm der Engel mit seinen schwarzen Flügeln den Weg versperrte. Der Mann erschrak zuerst, faßte sich aber bald und fragte mit viel Würde: »Ich glaube, dich zu kennen, und sehe mit Befriedigung, daß du dem Bilde sehr ähnlich bist, das ich mir von dir gemacht habe. Aber warum suchst du mich schon so früh auf?«

»Ich weiß«, antwortete der Engel, »daß du dein ganzes Leben damit verbracht hast, über mich nachzudenken, dich auf mich vorzubereiten und mich mit Anstand zu empfangen. Ich weiß auch, daß du das Nichtsein für den einzig wünschenswerten Zustand hältst, welcher den Menschen gegönnt ist. Freue dich! In einer Stunde wirst du dein Ziel erreicht haben.«

Der Mann atmete auf.

»Aber es kostet dich nur ein Wort«, fuhr der Engel fort, »um sogleich in das, was du das Reich des Nichtseins nennst, eingehen zu können. Schenke mir diese Stunde, die dir nichts anderes sein kann als ein unwillkommener Aufschub, für ein anderes menschliches Wesen, dem sie ein ungeheures Glück bedeutet.«

»Das werde ich keineswegs tun«, erwiderte der Philosoph mit viel Freundlichkeit. »Gerade in dieser letzten Stunde meines Lebens kann es mir eher gelingen als in jeder anderen, das Rätsel der Welt endgültig zu lösen – eine Möglichkeit, auf die ich keineswegs verzichten möchte; und überdies finde ich, daß die Ewigkeit selbst für den erfreulichsten Zustand, der den Menschen gegönnt ist, eben lang genug sein mag. Ich wünsche also, daß du mich ruhig meinen Spaziergang fortsetzen läßt und gütigst nicht früher erscheinst, als das Schicksal oder Gott oder der Weltgeist – darüber werde ich ja bald Näheres erfahren – dir aufgetragen hat.« Damit wendete er sich ab, und der Todesengel flog mit dem Jüngling wieder von dannen.

Sogleich befanden sie sich in einem dumpfen, schwach erhellten Zimmer, am Fußende eines Bettes, darin ein elender und verfallener Mensch lag, der sich ächzend und stöhnend hin und her[314] wälzte. Er hatte wohl auch das Rauschen der Flügel gehört, denn plötzlich schlug er die Augen auf und starrte den Engel mit Entsetzen an.

»Da bin ich endlich«, sprach dieser mit milder Stimme. »Da bin ich, den du in so vielen schmerzensreichen Tagen und Nächten herbeigerufen hast. Ich kann dich gleich mit mir nehmen, wenn du mir die eine Stunde schenkst, die dir nach Gottes Ratschluß noch bevorstünde und die furchtbarer wäre als alle, die du bisher erduldet. Du wirst nach Atem ringen, kalter Schweiß wird aus allen deinen Poren brechen, du wirst reden und dich bewegen wollen; aber du wirst dich nicht mehr rühren und deinen jammernden Kindern und deiner verzweifelnden Frau kein Wort des Abschieds sagen können. Du weißt noch nicht, was Hoffnungslosigkeit ist, in dieser Stunde wirst du es wissen und wirst fühlen, daß sie die grauenhafteste von allen Qualen ist, die über dich verhängt worden.«

Der Kranke hatte sich im Bette aufgerichtet, schlug mit den Händen um sich, als wollte er die Erscheinung vertreiben, und schrie: »Geh, geh! Du kommst noch immer zur rechten Zeit! Wärst du vor einem Jahre gekommen, so hätte ich dir gedankt; jetzt hab' ich mich an meine Qualen längst gewöhnt und weiß doch, daß ich lebe. Ja, ich lebe, ich lebe! Auch hab' ich eben nach dem berühmtesten Arzt der Stadt geschickt, er wird gleich da sein, und wenn mich auch die hundert anderen nicht retten konnten, vielleicht wird der es tun. So geh doch, geh!«

Die Wärterin, die neben dem Kranken eingeschlafen war, fiel ihm in die Arme, zugleich stürzten seine Kinder aus dem Nebenzimmer herbei, und der Todesengel flog mit dem Jüngling von dannen.

Nun standen sie inmitten eines weiten Tales, darin die Morgennebel lagen, vor einer ärmlichen Hütte. Auf einer Bank davor saß ein blindes, uraltes Weib ganz allein. – »Wer ist denn da?« flüsterte sie mit ihren welken Lippen.

»Ich bin es, der Engel des Todes.«

Da zitterte die Greisin und fragte: »Muß ich denn schon sterben?«

Der Engel erwiderte: »Wie oft hast du geklagt, daß ich ganz an dich vergessen habe, in Armut und Elend bist du hundert Jahre alt geworden, deine Kinder hat man vor dir ins Grab gelegt, deine Enkel sind in alle Welt verstreut und kümmern sich nicht um dich, du bist einsam und blind. Nun bin ich endlich da – begrüßest du mich nicht mit Freude?«[315]

Und die Alte flüsterte wieder: »Muß ich wirklich schon fort? Muß ich wirklich schon fort?«

Der Engel antwortete: »Wohl wäre dir noch eine Stunde des Daseins bestimmt, aber was kann sie dir sein? Ich bitte dich, mir sie für Jemanden zu schenken, dem sie hunderttausendmal mehr wert ist als dir. Denn zu dir wird auch in dieser Stunde kein menschliches Wesen kommen, niemand wird deine Hand in der seinen halten, niemand dir die Augen zudrücken, und das Aufgehen der Sonne kannst du nicht sehen. Worauf willst du noch warten?«

Da kniete das Weib nieder und flehte: »Laß mir diese Stunde, wenn sie doch einmal mir gehört. So dunkel und einsam sie sein wird, dort, wohin sie mich morgen tragen werden, ist es noch einsamer und dunkler. Verlasse mich, Engel des Todes, komme nicht früher, als es sein muß.«

Und wieder nahm der Engel des Todes den Jüngling unter seine Flügel und flog mit ihm davon. Plötzlich befanden sie sich in einer kleinen Zelle. An einem hölzernen Tischchen, auf dem zwei Kerzen brannten, saß mit Fesseln an den Händen und Füßen ein bleicher Mann und starrte durch das vergitterte Fenster ins Leere. Er fuhr zusammen, als plötzlich der Engel zwischen ihm und dem Fenster stand. Er fuhr sich über die Stirn, suchte aufzustehen, und seine Ketten rasselten.

»Was willst du denn jetzt schon?« schrie er heiser.

»Ich will dich befreien«, sagte der Engel des Todes.

»Schon jetzt, schon jetzt? Ich habe das Glöcklein noch nicht läuten gehört; du kommst zu früh!«

»Du hast recht«, sagte der Engel, »denn es ist wahr, daß du in einer Stunde erst gerichtet werden sollst, weil du deine Mutter umgebracht hast. Aber wenn du mir diese letzte grauenvolle Stunde schenkst für einen anderen, der Besseres damit anfangen kann als du, so bin ich bereit, dich schon jetzt mit mir zu nehmen. Gleich wirst du hören, wie man im Hof den Galgen aufrichtet, bald wird das Gefängnistor knarren, um den Leuten Einlaß zu gewähren, die deiner Hinrichtung bewohnen wollen. Endlich wird sich die Tür deiner Zelle zum letztenmal öffnen, und draußen werden der Scharfrichter und seine Gesellen stehen, die dich die enge Treppe hinunterschleppen werden, bis zu dem Gerüst, auf dem du dein Leben in schimpflicher und martervoller Weise enden sollst.«

»Fort! Fort!« schrie der Verurteilte. »Wenn ich auch nur auf[316] das kleinste Stück von meinem Leben verzichten wollte, hätt' ich mir ja längst den Kopf hier an die Wand rennen können, und alles wär' vorbei gewesen. Aber ich will nicht! Ich will nicht! Nein! Ich will das Hämmern und Schlagen im Hofe hören und das Knarren des Tores, und ich will mit diesen Füßen über die schmale Treppe hinuntergehen zu dem Gerüst, will die Menschen sehen, die gekommen sind, will hören, wie sie flüstern, und den Himmel will ich noch einmal schauen, bevor ich dorthin muß, wo ich nicht mehr sehen und hören werde. Und ich weiß eine Geschichte von einem, der hat Vater und Mutter umgebracht, und noch unter dem Galgen, mit dem Strick um den Hals, haben sie ihn begnadigt. Und wenn sie mich in den tiefsten Kerker werfen auf Lebenszeit, bei Wasser und trockenem Brot, zu Ratten und Mäusen, und ich soll nie wieder die Sonne sehen, so würd' es mir recht sein, bin dann noch immer besser dran als ein toter Graf! Hebe dich weg, verruchtes Gespenst, hebe dich weg!«

Noch klang dem Jüngling das Fluchen des Verurteilten im Ohr, da fand er sich schon in einem schönen, stillen Gemach, das matt erhellt war von einer roten Ampel, die von der Decke herabhing und ihren Schein über ein Himmelbett verbreitete, in dem ein junges Paar sich innig umschlungen hielt. Aber nur das junge Weib sah die Erscheinung und lächelte.

»Bist du der Engel der Liebe?« fragte sie.

»Nein, ich bin der Engel des Todes und komme, dir deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Denn ich will dich von hinnen nehmen, während du in den Armen des Geliebten ruhst.«

»Mit ihm?«

»Nein – allein.«

»Das will ich nicht«, flüsterte das junge Weib.

»Und willst du's auch nicht, wenn ich dir sage, daß du doch in einer Stunde sterben müßtest?«

»In einer Stunde?«

»Ja, so ist es dir bestimmt. Aber dann wirst du allein sein und wirst deine Arme vergeblich nach dem Geliebten ausstrecken. Glaube nicht, daß du träumst; was ich dir sage, ist wahr, so jung du bist.«

Da schmiegte sie sich an den Geliebten und sagte: »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!«

Der Geliebte lächelte und sagte: »Was hast du denn, mein armes Kind?«

Da sprach der Engel des Todes: »Du wirst mir diese Stunde gern schenken, wenn ich dir sage, daß ich sie für eine deiner[317] Schwestern auf Erden brauche, die ebenso innig geliebt wird als du und die dahingehen soll, ohne es zu wissen!«

»Nein, ich gebe dir diese Stunde nicht«, erwiderte das junge Weib; »denn ich habe mich wohl gesehnt, in den Armen des Geliebten zu sterben, solang du mir fern warst, aber da ich dich vor mir sehe, will ich auch diese Stunde noch leben, und wär' es auch allein – und ohne Liebe!«

Da trug der Engel den Jüngling in die Lüfte und sprach zu ihm: »Nun bring' ich dich wieder heim.«

Den Jüngling aber faßte eine namenlose Verzweiflung, er klammerte sich mit beiden Armen an den Engel und rief: »Verlaß mich nicht! So kann ich nicht zurück! Die Fülle des Lebens ist ungeheuer, und irgendwo in der Welt muß diese einzige Stunde zu finden sein, die ich haben will und um die ich dich nochmals anflehe.«

Da erwiderte der Engel: »Es ist so, wie du sagst. Aber nun gibt es nur noch einen einzigen auf der Welt, der sie dir geben kann, und wenn der es nicht tut, so wird dich das elender machen als alle Enttäuschungen, die du bisher erfahren. Denn der eine bist du selbst, und die eine Stunde mußt du mit deinem ganzen Leben bezahlen.«

»So nimm es hin!« rief der Jüngling freudig aus.

»Höre mich an«, sprach der Engel. »Denn ich sage dir noch mehr. Das Leben, das dir bevorsteht, wird Not, Krankheit und Einsamkeit sein. Bist du bereit, es hinzugeben, so gehst du nach Ablauf einer Stunde mit der, die du liebst, dahin.«

»Ich danke dir, du gütiger Engel!« rief der Jüngling aus. »Nun ist mein Flehen erhört.«

In demselben Augenblick saß er wieder an dem Bette der geliebten Frau, hielt ihre Hand in der seinen und wollte ihr sagen, wie unendlich er sie liebte. Da sah er, wie sich ihre Lider schlössen, ihre Brust sich senkte. Er wartete eines neuen Blickes, eines neuen Hauches – doch es war vergeblich. Sie atmete nicht mehr, sie schaute nicht mehr – es war zu Ende. Da stürzte er in Verzweiflung an ihrem Bette zusammen und schrie auf: »Engel des Todes, warum hast du mich betrogen?«

Und der Engel, der nun zu Häupten des Bettes stand, sprach: »Armes Menschenkind! Glaubst du denn, daß es dir vergönnt ist, durch alle deine Liebe und durch allen deinen Schmerz hindurch in die Tiefen deiner Seele zu schauen, wo deine wahren Wünsche wohnen? Noch einmal wirst du mich sehen, da werde ich dich fragen, ob ich dich heute betrogen habe oder du dich selbst.«

Quelle: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 313-318. Erstdruck: Neue Freie Presse, Wien, 24. Dezember 1899. Lizenz: Gemeinfrei.

SKDP/16/002-6. § 16. Gustav Meyrink: “Das Geheimnis des Schlosses Hathaway”

Home / 1517/ Lessico
Gustav Meyrink
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Zeno.org meine Bibliothek e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/6. - Nostra numerazione del Brano: 16. Reader: Hokuspokus / download  di “Schloss Hathaway” (6).  Etext: Zeno.org/Meyrink  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

Das Geheimnis des Schlosses Hathaway
Gustav Meyrink
(1868-1932)


[30] Ezechiel von Marx war der beste Somnambule, den ich in meinem Leben gesehen habe.

Oft mitten in einem Gespräch konnte er in Trance fallen und dann Geschehnisse erzählen, die sich an weit entfernten Orten zutrugen oder gar erst nach tagen und Wochen abspielten.

Und alles stimmte mit einer Präzision, die einem Swedenborg Ehre gemacht hätte.

Wie nun diese Trance bei Marx absichtlich und beliebig herbeiführen?!

Alles mögliche hatten wir bei unserem letzten Beisammensein versucht – meine sechs Freunde und ich –, hatten den ganzen Abend experimentiert, magnetische Striche angewandt, Rauch von Lorbeer usw. usw., – aber alles schlug fehl, Ezechiel von Marx in Hochschlaf zu bringen.

»Blödsinn,« sagte endlich Mr. Dowd Galagher, ein Schotte. »Sie sehen doch, es geht nicht. Ich werde Ihnen lieber etwas erzählen, etwas so Sonderbares, daß man Tage und Nächte vergrübeln könnte, dem Rätsel, dem Unerklärlichen darin auf die Spur zu kommen.

Fast ein Jahr ist es her, daß ich davon gehört[31] habe, und kein Tag verging, an dem ich nicht Stunden vergeudet hätte, um mir wenigstens eine halbwegs zureichende Erklärung zurechtzuzimmern.

Schon als Schriftsteller setzte ich meinen Ehrgeiz dahinter, zumindest eine theoretische Lösung zu finden.

Alles umsonst!

Dabei kenne ich doch jeden Schlüssel, den der Okkultismus des Ostens und Westens bieten könnte.

Das wissen Sie doch! –

Finden Sie – wenn Sie können – zu der Geschichte den auflösenden Divisor!

Es würde mir imponieren.

Also hören Sie zu (er räusperte sich):

Soweit die Familienchroniken der Earls of Hathaway zurückgehen, kehrt von Erstgeborenem zu Erstgeborenem das gleiche dunkle Schicksal immer wieder.

Ein tötender Reif fällt auf das Leben des ältesten Sohnes an dem Tage, an dem er das einundzwanzigste Jahr erreicht, um nicht mehr von ihm zu weichen bis zu seiner letzten Stunde.

Verschlossen, wortkarg, gramvoll vor sich hinstarrend – oder tagelang auf einsamer Jagd – bringen sie auf Hathaway-Castle ihr Leben zu, bis wiederum der älteste Sprosse – mündig geworden – nach dem Gesetze sie ablöst und das traurige[32] Erbe antritt. Früher noch so lebensfroh, sind sie dann mit einem Schlage wie verwandelt – die jungen Earls –, und verlobten sich vorher nicht, später eine Gattin in ihr freudloses Heim zu holen, ist fast Unmöglichkeit.

Dennoch hat keiner von ihnen je Hand an sich selbst gelegt.

Dennoch hat all diese Trauer und Qual, die keine Stunde mehr von ihnen wich, nicht genügt, auch nur in einem von ihnen den Entschluß zum Selbstmord reifen zu lassen. – – – – – – – –

Mir träumte einmal, ich läge auf einer Toteninsel – einer jener mohammedanischen Begräbnisstätten im Roten Meer, deren verkümmerte Bäume schneeweiß im Sonnenlicht leuchteten wie mit Milchschaum übergossen.

Ein weißer ›Schaum‹, der sich zusammensetzt aus Millionen von bewegungslos wartender Geier. Ich lag auf dem Sandboden und konnte mich nicht rühren. – Ein unbeschreiblicher, entsetzlicher Verwesungsgeruch wehte warm aus dem Innern der Insel zu mir.

Die Nacht brach herein. Da wurde der Boden lebendig, – aus dem Meer eilten durchsichtige Taschenkrebse von erschreckender Größe lautlos über den Sand; – hypertrophiert von der Mästung an menschlichem Aas.[33]

Und einer von ihnen, träumte mir, saß an meinem Halse und sog mir das Blut aus.

Ich konnte ihn nicht sehen, mein Blick erreichte ihn nicht, – nur ein trüber, bläulicher Schein fiel auf meine Brust – von der Schulter her –, wie das Mondlicht durch den Krebs schimmerte, der so durchsichtig war, daß er kaum mehr einen Schatten warf.

Da betete ich zu dem Meister in meinem Innern, er möge erbarmungsvoll das Licht meines Lebens verlöschen.

Ich rechnete aus, wann mein Blut zu Ende sein könnte, und hoffte doch wieder auf die Sonne des fernen Morgens – – – – So, denke ich mir, wie in meinem Traum, muß auch im Leben der Earls von Hathaway noch ein leises Hoffen glimmen in all ihrer weiten, dunklen Trostlosigkeit. Sehen Sie, – den jetzigen Erben Vivian – damals noch Viscount Arundale – lernte ich persönlich kennen. Er sprach viel von dem Verhängnis, da sein zweiundzwanzigster Geburtstag nahe war, und fügte noch in lachendem Übermut hinzu, der Pest selber, – trete sie mit blauem Antlitz im entscheidenden Augenblick vor ihn, nach seinem Leben zu greifen – sollte es nicht gelingen, ihm auch nur eine Stunde lang Frohsinn und Jugend zu vergällen.[34]

Damals waren wir in Hathaway-Castle.

Der alte Earl jagte seit Wochen im Gebirge; – ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen. –

Seine Gemahlin – Lady Ethelwyn – Vivians Mutter, sprach, – gramvoll und verstört, – kaum ein Wort.

Nur eines Tages, – ich war mit ihr allein in der Veranda des Schlosses, und um sie aufzuheitern, erzählte ich ihr von den vielen tollen und lustigen Streichen ihres Vivian, die doch die beste Sicherheit für seine fast unzerstörbare Heiterkeit und Sorglosigkeit böten, – da taute sie ein wenig auf und sagte mir allerlei, was sie selbst über das Verhängnis teils in den Familienaufzeichnungen gelesen, teils selbst gesehen und entdeckt hatte in den vielen Jahren ihrer langen einsamen Ehe. –

Schlaflos lag ich damals die Nacht und konnte die seltsamen, schreckhaften Bilder nicht bannen, die die Worte der Lady Ethelwyn vor meine Seele gerufen hatten: –

Im Schlosse sei ein geheimes Gemach, dessen verborgenen Zugang außer dem Earl und dem Kastellan – einem finsteren, scheuen Greise – niemand kenne.

Dieses Zimmer müsse an dem gewissen Zeitpunkte der junge Erbe betreten.

Zwölf Stunden bleibe er darin, um es [35] dann bleich – ein gebrochener Mann – zu verlassen. –

Einmal war der Lady der Einfall gekommen, aus jedem Fenster ein Wäschestück heraushängen zu lassen, und auf diese Weise hatte sie entdeckt, daß immer ein Fenster ohne Wäsche blieb, also zu einem Gemach gehören mußte, dessen Eingang unauffindbar war.

Weiteres Forschen und Suchen blieb vergeblich; die labyrinthartig angelegten alten Gänge des Schlosses hemmten jede Orientierung.

Zuweilen aber, immer zur selben Jahreszeit, überkomme jeden das bedrückende undeutliche Empfinden, als sei für eine Zeit in Hathaway-Castle ein unsichtbarer Gast eingezogen.

Ein Gefühl, das sich allmählich – vielleicht durch eine Kette ungewisser unwägbarer Anzeichen verstärkt – zur grauenvollen Gewißheit steigert. –

Und als Lady Ethelwyn in einer Vollmondnacht, von Schlaflosigkeit und Furcht gequält, in den Schloßhof hinabblickte, nahm sie in grenzenlosem Entsetzen wahr, wie der Kastellan eine gespenstische, affenähnliche Gestalt von schauerlicher Häßlichkeit, die röchelnde Töne ausstieß, heimlich umherführte. –«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Mr. Dowd Galagher schwieg, legte die Hand vor die Augen und lehnte sich zurück.[36]

»Diese Bilder verfolgen mich heute noch,« setzte er seine Schilderung fort, »ich sehe das alte Schloß vor mir, wie ein Würfel gebaut, – inmitten einer in seltsam geschweiften Linien angelegten Parklichtung, – von traurigen Eichenbäumen flankiert.

Ich sehe wie eine Vision die wäschebehängten Bogenfenster und ein dunkles, leeres dazwischen. Und dann – – dann – –. Ja richtig, etwas habe ich Ihnen zu sagen vergessen:

Immer wenn die Anwesenheit des unsichtbaren Besuchers fühlbar wird, durchdringt eine schwache, unerklärliche Ausdünstung – ein alter Diener behauptete, sie röche ähnlich wie Zwiebel – die Gänge des Hauses.

Was das alles bedeuten mag?! – – –

Wenige Wochen, nachdem ich Hathaway-Castle verlassen, drang das Gerücht zu mir, Vivian sei tiefsinnig geworden! Also auch der!

Dieser Tollkopf, der einen Tiger mit bloßen Fäusten angegangen hätte!!

Sagen Sie mir, haben Sie eine Erklärung, meine Herren?

Wäre es ein Spuk, ein Fluch, ein magisches Spektrum, die Pest in eigener Person gewesen, – um Gottes willen doch wenigstens einen Versuch zum Widerstand hätte Vivian – – – – – – –«[37]

– Das Klirren eines zerbrochenen Glases unterbrach den Erzähler.

Wir alle sahen erschreckt auf: Ezechiel von Marx saß kerzengerade und steif in seinem Sessel – die Augachsen parallel. – – Somnambul!

Das Weinglas war ihm aus der Hand gefallen.

Ich stellte sofort den magnetischen Rapport mit Marx her, indem ich ihm über die Gegend des Sonnengeflechtes strich und flüsternd auf ihn einsprach.

Bald war der Somnambule soweit, daß wir uns alle mit ihm durch kurze Fragen und Antworten verständigen konnten, und es entspann sich folgende Unterhaltung:

Ich: »Haben Sie uns etwas zu sagen?«

Ezechiel von Marx: »Feiglstock.«

Mr. Dowd Galagher: »Was heißt das?«

Ezechiel von Marx: »Feiglstock.«

Ein anderer Herr: »So seien Sie doch deutlicher!«

Ezechiel von Marx: »Feiglstock Attila, Bankier, Budapest, Waizner Boulevard Nr. 7.«

Mr. Dowd Galagher: »Ich verstehe kein Wort.«

Ich: »Hängt das vielleicht mit Hathaway-Castle zusammen?«

Ezechiel von Marx: »Ja.«

[38] Ein Herr im Frack: »Was ist die affenähnliche Gestalt im Schloßhof mit der röchelnden Stimme?«

Ezechiel von Marx: »Dr. Max Lederer.«

Ich: »Also nicht Feiglstock?«

Ezechiel von Marx: »Nein.«

Der Maler Kubin: »Wer ist also Dr. Max Lederer?«

Ezechiel von Marx: »Advokat und Kompagnon von Feiglstock Attila, Bankier in Budapest.«

Ein dritter Herr: »Was will dieser Dr. Lederer in Hathaway-Castle?«

Ezechiel von Marx (murmelt etwas Unverständliches).

Der Maler Kubin: »Was haben denn die Earls von Hathaway mit der Bankfirma Feiglstock zu tun?«

Ezechiel von Marx (flüsternd in tiefer Trance): »– von Anbeginn – – ›Geschäftsfreunde‹ der Earls.«

Ich: »Worin wurden die Erben des Earltitels an dem gewissen Tage eingeweiht?«

Ezechiel von Marx (schweigt).

Ich: »Beantworten Sie doch die Frage.«

Ezechiel von Marx (schweigt).

Der Herr im Frack (brüllend): »In was sie eingeweiht wurden?«

[39] Ezechiel von Marx (mühsam): »In das Fami– – in das Fami – lienkonto – – – – – –«

Mr. Dowd Galagher (nachdenklich vor sich hin): »Ja so!! – In das Fami–lien–konto. – Jetzt ist mir alles klar.«

Quelle: Gustav Meyrink: Gesammelte Werke, Band 4, Teil 1, München 1913, S. 30-40. Lizenz: Gemeinfreiю

SKDP/15/002-5. § 15. Rainer Maria Rilke: “Die Näherin”

Home / 1416/ Lessico
Rainer Maria Rilke
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Projekt Gutenberg.de e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/5. - Nostra numerazione del Brano: 15. Reader: ekyale / download  di “Die Näherin” (5).  Etext: Gutenber der Spiegel/Rilke  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

Die Näherin (1894)
Rainer Maria Rilke
(1875-1926)

... Es war im April des Jahres 188.. Ich war gezwungen meine Wohnung zu wechseln. Mein Hausherr hatte sein Haus verkauft und der neue Besitzer war entschlossen, das Stockwerk, in welchem mein bescheidenes Zimmer sich befand, ungeteilt zu vermieten. Ich suchte lange nach einem anderen – erfolglos. Endlich nahm ich des Suchens müde fast ungeschaut ein Kämmerchen im dritten Stock eines Gebäudes, dessen Längsseite keinen unbedeutenden Teil der engen Seitengasse einnahm.

Mein Zimmer erschien mir gleich in den ersten Tagen recht heimlich. Durch die beiden kleinen Fenster, deren vielfach geteilten Scheiben das Alter des Hauses erraten ließen, schaute ich weit über graue und rote Dächer, über rußige Schornsteine hinweg die blauen Berge und konnte die aufgehende Sonne betrachten, die als glühende Kugel auf dem verschwommenen Hügelrand lehnte. Meine eigenen Möbel die ich hatte herbeischaffen lassen, machten den beengten Raum wohnlicher, als ich anfangs hoffte, und die Bedienung, die die Hausbesorgerin übernommen hatte, ließ nichts zu wünschen übrig. Die Treppe war nicht allzusteil und konnte unmerklich erstiegen werden, ja, wenn ich in Gedanken hinanschritt, fühlte ich mich gar verleitet, bis auf den Dachboden zu klimmen. Kurzum ich war zufrieden, zumal in dem dunklen Hofe weder Kinder spielten noch – Leierkästen.

Jahre sind ins Land gegangen seither. – Die Zeit, von der ich erzähle, liegt für mich im Dämmern der Vergangenheit, und die grellen Farben der Ereignisse sind verblaßt und verschwommen. Mir ist, als spräche ich von einer Begebenheit, die nicht mir selbst, sondern einem Anderen, vielleicht einem guten Freund zugestoßen ist. Ich muß daher nicht befürchten, daß mich die Selbstliebe zu einer Lüge verleitet: ich schreibe offen, klar und wahrheitsgemäß.

Ich war nicht viel zuhause damals. Früh um halb acht ging ich ins Amt, speiste mittags in einem billigen Gasthause und verbrachte so oft es anging den Nachmittag im Hause meiner Braut. Ja, ich war verlobt damals. Hedwig – ich will sie so nennen – war jung, liebenswürdig, gebildet und – was in den Augen meiner Genossen am schwersten ins Gewicht fiel – reich. Sie entstammte einer älteren Kaufmannsfamilie, die es durch Sparsamkeit und Fleiß endlich dahin gebracht hatte, ein Haus zu führen, das auch die jungen Kavaliere gerne besuchten, weil bei aller Vornehmheit ein ungezwungener Frohsinn dort herrschte, der die Langeweile nicht aus den Teetassen steigen ließ. Die jüngste Tochter des Hauses, Hedwig, war übrigens jedermanns Liebling, weil sie mit ihrer Bildung eine gewisse liebenswürdige Leichtfertigkeit vereinte, die die gleichgültigste Unterhaltung interessant und reizvoll machte. Sie besaß mehr Herz und Gemüt, als die beiden älteren Schwestern, war aufrichtig, heiter, und – es ist gewiß, daß ich sie liebte. –

Ich kann offen reden. Sie heiratete später, ein Jahr nachdem das Verlöbnis gelöst war, einen jungen, adligen Offizier, starb aber, nachdem sie ihm das erste Kind, ein blondlockiges Töchterchen, geschenkt hatte. –

In ihrem Elternhaus, wo sich täglich eine größere Gesellschaft befand, blieb ich gewöhnlich bis gegen die sechste Abendstunde, machte dann meinen Spaziergang, besuchte das Theater und kehrte um zehn Uhr nachts nachhause zurück, um den nächsten Tag dieselbe Lebensweise fortzuführen.

Früh, wenn ich meine drei Treppen langsam niederstieg, traf ich auf dem Vorraume des ersten Stockes stets den Hausbesorger, der die weiße Steinfliese reinigte. Er grüßte und begann ein Gespräch. Tag für Tag dasselbe. Vom Wetter erst, dann, wie ich zufrieden sei mit meiner Wohnung und dergleichen. Da der Alte nie enden wollte, fragte ich ihn immer nach seinen Kindern, worauf er seufzte und zwischen zusammengepreßten Zähnen hervorstieß: »'s ist ein Kreuz! Die machen Sorge, Herr!« Damit wars zu Ende. – Einmal an einem, an einem Dienstag, erkundigte ich mich, nur um etwas zu sagen, wer denn neben mir wohne. – Die Frage ward beantwortet, just wie sie gestellt war: nur so – oben hin. »Eine Näherin, ein armes Ding, ein häßliches ...« murrte er, ohne vom Boden aufzusehen. Das war Alles.

Ich hatte diese Auskunft längst vergessen, als ich sie – die Näherin, wie ich damals richtig vermutete – im dämmerigen Flur des Hauses traf. An einem Sonntagvormittag war es. Ich hatte länger geschlafen und ging eben aus, während sie, ein kleines Buch in der Hand, wahrscheinlich aus der Kirche zurückkehrte. Eine armselige Gestalt: zwischen den spitzen Schultern, die ein verschossener, grüner, fast bis zur Erde reichender Mantel deckte, wiegte sich der Kopf, in dem zuerst die lange, dünne Nase und die hohlen Wangen auffielen. Die schmalen, leicht geöffneten Lippen zeigten unsaubere Zähne, das Kinn war eckig und sprang weit vor. Bedeutend in diesem Gesichte schienen nur die Augen. Nicht daß sie schön gewesen wären, aber sie waren groß und sehr schwarz – wenn auch glanzlos. So schwarz, daß das tiefdunkle Haar fast grau erschien. – Ich weiß nur, daß der Eindruck, den dies Wesen auf mich machte, keineswegs ein angenehmer war. Ich glaube sie sah mich nicht an. Indessen blieb mir keine Zeit über diese gleichgültige Begegnung weiter nachzudenken, da ich knapp vor dem Tore einem Freund in die Hände fiel, in dessen Gesellschaft ich den ganzen Vormittag verbrachte. Dann vergaß ich überhaupt, daß ich eine Nachbarin hatte, zumal es, trotzdem wir hart Tür an Tür waren, nebenan Tag und Nacht ganz stille blieb. – So wäre es wohl fortgegangen, wenn nicht eines Nachts durch Zufall – oder wie soll ich es nennen – das Unerwartete, Niegeahnte geschehen wäre.

Im Hause meiner Braut fand in den letzten Tagen des Aprils eine Gesellschaft statt, die, lange besprochen und vorbereitet, ganz trefflich verlief und bis spät in die Nacht dauerte. Gerade an jenem Abend hatte ich Hedwig entzückend gefunden. Ich plauderte lange mit ihr im kleinen, grünen Salon, und hörte voller Freude, wie sie halb ironisch, aber voll kindlicher, inniger Naivität das Bild unseres zukünftigen Hausstandes entwarf, wie sie all die kleinen Freuden und Leiden mit den grellsten Farben malte, und sich auf unser Glück freute, wie ein Kind auf den Christbaum. Ein angenehmes Gefühl der Zufriedenheit durchstrahlte wie eine wohltuende Wärme meine Brust, und auch Hedwig gestand damals, mich noch nie so heiter gesehen zu haben. – Dieselbe Stimmung beherrschte übrigens die ganze Gesellschaft. Toast folgte auf Toast. So kam es denn, daß man sich um drei Uhr morgens immer noch recht ungern trennte. – Drunten fuhr Wagen um Wagen vor. Die wenigen Fußgänger zerstreuten sich bald nach allen Seiten. Ich hatte mehr denn eine halbe Stunde zu gehen und so beschleunigte ich ziemlich meinen Schritt, umsomehr, als die Aprilnacht kalt und nebeldüster war. Ich war mit meinen Gedanken beschäftigt und es schien mir gar nicht so lange gedauert zu haben, als ich schon vor der Haustür stand. Langsam sperrte ich auf und schloß das Tor vorsichtig hinter mir. Brannte dann ein Zündholz an, welches mir durch die Vorhalle bis zur Treppe leuchten sollte. Es war übrigens das letzte, das ich besaß. Es löschte bald. Die Treppe tappte ich, immer noch der schönen Stunden des vergangenen Abends denkend, hinan. Nun war ich oben. Ich steckte den Schlüssel in die Tür, drehte einmal um, öffnete langsam ...

Da stand sie vor mir. Sie. Eine matte, fast herabgebrannte Kerze erhellte dürftig das Zimmer, aus dem mir ein unangenehmer Dunst von Schweiß und Fett entgegenschlug. Sie stand in einem schmutzigen, weitoffenen Hemde und einem dunklen Unterrock am Ende des Bettes, schien gar nicht erstaunt und blickte mich nur unverwandt mit starren Augen an. –

Ich war offenbar in ihr Zimmer geraten. Aber ich war so befangen, so festgebannt, daß ich nicht ein Wort der Entschuldigung sagte, aber auch nicht ging. Ich weiß, daß mich ekelte; aber ich blieb. Ich sah wie sie an den Tisch trat, den Teller mit den verstreuten Überresten eines zweifelhaften Mahles beiseite schob, vom Sessel die Kleider wegnahm, die sie ausgezogen, – und mich setzen hieß. Mit leiser Stimme, indem sie sagte: Kommen Sie.«

Auch der Klang dieser Stimme war mir zuwider. Aber wie einer unbekannten Macht folgend, gehorchte ich. Sie sprach. Ich weiß nicht worüber. – Dabei saß sie am Rande ihres Bettes. Ganz im Dunkeln. Ich sah nur das bleiche Oval dieses Gesichts und hie und da, wenn die verlöschende Kerze auflohte, die großen Augen. – Dann erhob ich mich. Ich wollte gehen. Die Klinke an der Tür leistete Widerstand. Sie kam mir zu Hilfe. Da – in meiner Nähe glitt sie aus, – und ich mußte sie auffangen. Sie schmiegte sich an meine Brust, und ich fühlte ganz nahe ihren glühenden Atem. Es war mir unangenehm. Ich wollte mich los machen. Allein ihre Augen ruhten so starr in den meinen, als webten diese Blicke ein unsichtbares Band um mich. Sie zog mich immer mehr an sich, immer mehr. Sie drückte heiße, lange Küsse auf meine Lippen ... Da verlöschte die Kerze. –

Am anderen Morgen erwachte ich mit schwerem Kopf, Kreuzschmerzen und bitterer Zunge. Neben mir in den Kissen des Bettes schlief sie. Das blasse eingefallene Gesicht, der magere Hals, dieser flache entblößte Busen flößte mir Schrecken ein. Ich richtete mich langsam auf. Die dumpfige Luft lastete auf mir. Ich blickte mich um: der schmutzige Tisch, der abgenutzte, dünnbeinige Sessel, die eingegangene Blume auf dem Fensterbrett – Alles machte den Eindruck des Elenden, Verkümmerten. Da regte sie sich. Sie legte wie träumend eine Hand auf meine Schulter. Ich betrachtete diese Hand; die langen dickknöcheligen Finger mit den schmutzigen, kurzen, breiten Nägeln, die Haut an den Spitzen braun und zerstochen ... Mich ergriff ein Abscheu vor diesem Wesen. Ich sprang empor, riß die Tür auf, und rannte in mein Zimmer. Dort ward mir leichter. Noch weiß ich, daß ich bei meiner Tür den Riegel vorschob – soweit es ging. –


Tag um Tag verging in ganz derselben Weise, wie früher. Einmal, vielleicht eine Woche später, als ich mich schon zu Ruhe begeben hatte, stieß ich zufällig mit dem Ellebogen gegen die Wand. Ich vernahm, daß dieses unabsichtliche Klopfen sofort beantwortet wurde. Ich blieb still. – Dann schlummerte ich ein. Im Halbschlaf plötzlich schien mir, daß meine Tür geöffnet würde. Im nächsten Augenblick fühlte ich einen Körper, der sich an mich schmiegte. Sie war bei mir. In meinen Armen verbrachte sie die Nacht. Ich wollte sie fortschicken, oft. Aber sie blickte mich mit ihren großen Augen an, und das Wort erstarb auf der Lippe. O es war entsetzlich, die warmen Glieder dieses Wesens neben mir zu fühlen, dieses häßlichen, frühgealterten Mädchens; und doch fand ich nicht die Kraft ...

Manchmal begegnete ich ihr im Treppenhaus. Sie ging an mir vorbei, wie zum ersten Male: – wir kannten uns nicht. Sehr oft kam sie zu mir. Leise, ohne ein Wort zu sprechen, trat sie ein und hielt mich gebannt durch ihren Blick. Ich war willenlos.

Endlich beschloß ich der Sache ein Ende zu machen. Mir kam es wie ein Verbrechen vor gegen meine Braut, das Bett mit diesem Weibe zu teilen, das sich mit solcher Aufdringlichkeit an mich schmiegte, und das doch nichteinmal – das Recht der Liebe besaß! –

Ich kam viel zeitiger nachhause und verriegelte sofort meine Türe. Als die neunte Abendstunde heranrückte, kam sie. Da sie die Tür versperrt fand, ging sie wieder weg; sie mochte wähnen ich sei nicht zuhause. Aber ich war unvorsichtig. Ich schob den schweren Schreibtischsessel etwas jäh zurück. Das mußte sie vernommen haben. Im nächsten Augenblick pochte es. Ich blieb still. Noch einmal. Dann ungeduldig ohne Unterlaß. Jetzt hörte ich sie schluchzen – lange, lange ... Die halbe Nacht mußte sie an meiner Türe verbracht haben, Aber ich war stark geblieben; ich fühlte, daß dieses Ausharren den Zauber gebrochen hatte. –

Den nächsten Tag traf ich sie auf der Treppe. Sie ging sehr langsam. Als ich ganz in ihrer Nähe war, schlug sie die Augen auf. Ich erschrak: In diesen Augen lag ein unheimliches Flimmern und Drohen ... Ich lachte über mich selbst. – Ich war doch ein rechter Tor! Dieses Mädchen! Und ich schaute ihr nach, wie sie so schwerfällig die Füße auf die Steinstufen setzte und hinabhinkte ...

Am Nachmittage brauchte der Chef meiner, so daß der gewohnte Besuch bei Hedwig unterbleiben mußte. Abends, als ich in meine Stube kam, fand ich einen Brief des Vaters meiner Braut vor, der mich in das größte Staunen versetzte. Er lautete:

»... Unter den obwaltenden Verhältnissen werden Sie es begreifen, daß ich mich zu meinem eigenen, größten Bedauern gezwungen sehe, die Verlobung mit meiner Tochter aufzuheben. Ich dachte Hedwig einem Manne anzuvertraun, den keine anderweitigen Verpflichtungen binden. Derartige Erfahrungen seinem Kinde möglichst zu ersparen, ist Vaterpflicht. Sie werden, geehrter Herr von B ..., mein Vorgehen verstehen, wie auch ich überzeugt bin, daß Sie mich selbst gewiß noch rechtzeitig von der Lage der Dinge unterrichtet hätten. – Im Übrigen stets der Ihre ...«

Wie mir zumute war, ist schwer zu beschreiben. Ich liebte Hedwig. Ich hatte mich in die Zukunft, die sie selbst so reizend entworfen hatte, schon eingelebt. Ich konnte mir mein Schicksal ohne sie nicht denken. Ich weiß, daß mich zuerst ein heftiger Schmerz übermannte, der mir Tränen in die Augen trieb, ehe ich Zeit fand nachzudenken, welchem Einflusse ich diese sonderbare Zurückweisung zu verdanken hatte. Denn sonderbar war sie auf jeden Fall. – Ich kannte Hedwigs Vater, der die Gewissenhaftigkeit und Gerechtigkeit selbst war, und wußte, daß nur ein bedeutendes Ereignis ihn zu diesem Vorgehen erwogen haben konnte. Denn er achtete mich und war zu besonnen mir Unrecht zu tun. Ich schlief die ganze Nacht nicht. Tausend Gedanken durchkreuzten meinen Kopf. Endlich gen Morgen entschlummerte ich vor Müdigkeit. Beim Erwachen bemerkte ich, daß ich vergessen hatte, die Tür zu verriegeln. Indessen sie war nicht bei mir gewesen. Ich atmete erleichtert auf.

Ich kleidete mich eilig an, entschuldigte für ein paar Stunden mein Fernbleiben vom Amte und eilte zur Wohnung meiner Braut. Ich fand das Tor verschlossen, und als auf mein wiederholtes Läuten niemand erschien, dachte ich sie seien ausgefahren. Der Hausbesorger könnte ja leicht im Hofe beschäftigt sein. Wo er die Glocke nicht hörte. – Ich beschloß am Nachmittag zur gewöhnlichen Stunde zu kommen.

So tat ich auch. – Der Hausbesorger öffnete, machte erstaunte Augen und sagte, ich müßte ja doch wissen, daß die Herrschaften abgereist seien. Ich erschrak, tat aber, als sei ich von Allem unterrichtet, und verlangte nur Franz, den alten Diener zu sprechen. Der erzählte mir denn auch haarklein, daß Alle, Alle abgereist seien, nachdem gestern nachmittag eine merkwürdige Szene sich abgespielt hätte.

»Ich stand«, so sprach er, »hier im Vorraum, putzte die Tafelbestecke, als ein Frauenzimmer heruntergekommen und elend eintrat und mich ersuchte, sie zu Fräulein Hedwig zu führen. Natürlich gab ich nicht nach, – man muß die Leute doch erst kennen ...« Ich nickte eifrig. – Mir kam ein Gedanke ... »Na und kurz und gut«, fuhr der schwatzhafte Alte fort, »sie macht auf meine Weigerung hin solange ein Geschrei und ein Gezeter, bis der gnädige Herr heraustrat. Den bat sie nun und beschwor, sie bringe wichtige Nachrichten. Er nahm sie in sein Cabinet. Eine Stunde blieb sie drin. Eine Stunde, gnädiger Herr! Dann kam sie heraus, küßte dem gnädigen Herrn die Hand ...«

»Wie sah sie aus?« unterbrach ich ihn.

»Blaß, mager, häßlich.«

»Groß?«

»Recht groß.«

»Augen?«

»Schwarz, auch die Haare.« Der Alte schwatzte noch weiter. Ich wußte genug. – Alle Worte des entsetzlichen Briefes wurden mir klar: Verpflichtungen! ... Bitterer Groll rege sich in mir. Ich ließ den Diener stehen und stürzte hinab. Ich lief durch die Straßen bis zu meinem Hause. Vor dem Tor standen ein paar Leute beisammen. Männer und Weiber. Sie sprachen heftig und leise. Ich stieß sie rauh beiseite. Dann drei Treppen hinan ohne Atemholen. Ich mußte zu ihr, ihr sagen ... Ich wußte nicht was ich sagen würde, aber ich fühlte, daß mir die rechte Zeit die rechten Worte leihen werde ...

Auch auf der Treppe begegnete ich Männern. Ich achtete ihrer nicht. Oben. – Ich riß die Tür auf. Heftiger Carbolgeruch drang mir entgegen. Ein hartes Wort erstarb mir auf den Lippen. Da lag sie auf den grauen Linnen des Bettes in bloßem Hemde. Den Kopf weit zurück, die Augen geschlossen. Die Hände hingen schlaff. Ich trat näher. Sie zu berühren wagte ich nicht. – Mit den klaffenden Lippen und den unterlaufenen Augenlidern machte sie ganz den Eindruck einer Ertrunkenen. Mich schauerte. Ich war allein im Zimmer. Die scheidende, kalte Sonne beschien den schmutzigen Tisch – den Bettrand ... Ich beugte mich zu dem Weibe. Ja, sie war tot. Die Farbe des Gesichtes war bläulich. Ein übler Geruch ging von ihr aus. Und ein Ekel erfaßte mich, ein Abscheu ...

SKDP/14/002-4. § 14. Guy de Maupassantr: “Die Morithat”


Home / 1315 / Lessico
Guy de Maupassant
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Projekt Gutenberg.de e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/4. - Nostra numerazione del Brano: 14. Reader: Herr Klugbeisser / download  di “Die Morithat” (4).  Etext: Gutenber der Spiegel/Maupassant  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.

§ 14. Die Morithat
Guy de Maupassant
(1850-1893)

Als der Briefträger Bonifacius die Post verließ, stellte er fest, daß heute sein Bestellgang kürzer sein würde denn sonst, und er freute sich darüber außerordentlich.

Sein Bezirk war die ganze Umgegend von Vireville, und wenn er abends zurückkam in seinem langen, müden Schritt, hatte er manchmal mehr als vierzig Kilometer im Leibe.

Die Briefabgabe würde also heute schnell gehen, er konnte sich sogar unterwegs ein bißchen aufhalten und würde um drei Uhr wieder zu Hause sein. So ein Glück!

Er verließ den Ort, auf dem Wege nach Sennemare und begann seinen Dienst. Es war Juni, und alles grünte und blühte, der schönste Monat im Flachland.

Der Mann, der eine blaue Bluse trug und ein schwarzes Käppi mit roten Streifen, durchschritt die schmalen Wege zwischen den Hafer- oder Getreidefeldern; bis an die Schultern ging ihm das Korn. Sein Kopf ragte über die Ähren, als schwimme der auf einem ruhigen, grünen Meer hin, das sonst eine leichte Brise wellt.

Er betrat die Bauernhöfe durch das Holzthor in der Hecke, die zwei Reihen Buchen beschatteten. Er nannte jedesmal den Bauer beim Namen:

– Morgen Herr Chicot!

Und gab ihm seine Zeitung, den Petit Normand. Der Bauer wischte sich dann die Hand an der Hose, nahm das Blatt in Empfang und steckte es in die Tasche, um es nach dem Mitagessen in Ruhe zu lesen.

Der Hund, der in seiner Hütte zu Füßen eines überhängenden Apfelbaumes lag, bellte wütend und zerrte an seiner Kette, aber der Briefträger ging, ohne sich umzuwenden, in seiner militärischen Haltung davon, große Schritte machend, den linken Arm auf die Tasche gestemmt, im rechten den Stock drehend, der neben ihm dieselben gleichmäßig eiligen Bewegungen machte.

Er verteilte seine Drucksachen und seine Briefe im ganzen Dorf Sennemare, dann ging er weiter durch die Felder, um die Zeitung dem Lehrer zu bringen, der ein kleines, alleinstehendes Haus, etwa zehn Minuten vom Ort entfernt, bewohnte.

Es war ein neuer Lehrer, Herr Chapatis, der erst vorige Woche eingezogen und seit kurzer Zeit verheiratet war. Er hielt ein Pariser Blatt, und ab und zu warf der Briefträger Bonifacius, wenn er Zeit dazu hatte, einen Blick hinein, ehe er das Blatt dem Empfänger zustellte.

Er öffnete also seine Tasche, nahm die Zeitung, schob sie aus dem Kreuzband heraus, faltete sie auseinander und begann sie während des Gehens zu lesen.

Die erste Seite interessierte ihn kaum, die Politik ließ ihn kalt, Finanz-Nachrichten überschlug er, aber der lokale Teil reizte ihn.

Der war gerade heute sehr reichhaltig, und er regte sich lebhaft auf bei der Schilderung eines Verbrechens in der Wohnung eines Jagdhüters, sodaß er mitten in einem Kleefeld stehen blieb, um es noch einmal langsam zu lesen.

Die Einzelheiten waren schrecklich. Ein Holzfäller war früh beim Forsthaus vorüber gegangen und hatte auf der Schwelle ein paar Tropfen Blut gesehen, als ob jemand Nasenbluten gehabt. Er dachte, der Förster wird die Nacht vielleicht ein Kaninchen erlegt haben, aber als er sich näherte, endeckte er, daß die Thür halb offen stand und das Schloß aufgebrochen war.

Da packte ihn die Angst, er lief ins Dorf, den Ortsvorstand zu benachrichtigen. Der nahm den Flurwächter und den Lehrer zur Verstärkung mit, und die vier Männer kehrten zusammen zurück.

Sie fanden den Förster ermordet am Kamin liegen, seine Frau erwürgt unter dem Bett und ihr kleines zehnjähriges Mädchen erstickt zwischen zwei Matratzen.

Der Briefträger Bonifacius war so erschrocken bei dem Gedanken an diesen Mord, dessen furchtbare Einzelheiten eine nach der anderen ihm hier enthüllt wurden, daß er sich ganz schwach auf den Beinen fühlte und laut sagte:

– Gott verdamm mich! was giebts für schlechte Menschen !

Dann steckte er die Zeitung wieder in das Kreuzband und ging weiter, immer noch das Verbrechen im Kopf. Bald kam er an das Haus des Herrn Chapatis. Er öffnete das kleine Gartenthor und näherte sich dem Häuschen. Es war ein niedriges Gebäude, das nur ein Erdgeschoß enthielt mit einem Mansardendach.

Es stand mindestens fünfhundert Meter vom nächsten Hof entfernt. Der Briefträger stieg die zwei Stufen hinauf, legte die Hand auf die Klinke, versuchte zu öffnen und fand die Thür verschlossen.

Da bemerkte er, daß die Läden noch garnicht geöffnet worden waren und daß heute noch niemand ausgegangen war. Eine gewisse Unruhe überfiel ihn, denn Herr Chavatis war seit seiner Ankunft immer sehr zeitig aufgestanden.

Bonifacius zog die Uhr, es war erst sieben Uhr zehn Minuten morgens, er war also fast eine Stunde früher gekommen als sonst.

Ach was, der Lehrer hätte doch schon auf sein müssen!

Und er ging vorsichtig um das Haus herum, als ob irgend eine Gefahr dabei sei. Er bemerkte nichts Verdächtiges, als ein paar Fußtritte in einem Erdbeerbeet.

Aber plötzlich blieb er unbeweglich und vor Entsetzen gebannt stehen, als er an einem Fenster vorüber kam.

Man stöhnte im Haus!

Er stellte sich mit gespreizten Beinen über ein Thymianbeet ganz nah ans Haus und legte sein Ohr an den Fensterladen, um besser zu hören. Wahrhaftig, es stöhnte! Er hörte ganz genau lange, schmerzliche Seufzer, etwas wie ein Röcheln, etwas wie das Geräusch eines Kampfes, dann wurde das Stöhnen stärker, wiederholte sich, ward noch schärfer und wechselte ab mit Schreien.

Da zweifelte Bonifacius nicht mehr daran, daß in diesem Augenblick gerade ein Verbrechen bei dem Lehrer verübt wurde. Er rannte davon was er konnte durch den kleinen Garten, eilte über das Feld hin mitten durchs Korn, lief, daß er ganz außer Atem kam und seine Tasche im Takt gegen die Hüften klatschte.

So kam er, nach Luft schnappend, verzeifelt an der Thür der Gendarmerie an. Der Wachtmeister Malautour war dabei, einen kaputen Stuhl mit Hammer und Nagel wieder zusammen zu schlagen; der Gendarm Rautier hatte das kapute Möbel zwischen den Beinen und hielt an die Bruchstelle einen Nagel, dann schlug der Wachtmeister, indem er dabei seinen Schnurbart kaute, mit aufgerissenen, vor angestrengter Aufmerksamkeit glänzenden Augen mit tötlicher Sicherheit seinem Untergebenen auf die Finger.

Sobald der Briefträger sie sah, rief er:

– Schnell, schnell! Kommen Sie, man ermordet den Lehrer!

Die beiden Leute hielten in ihrer Arbeit inne, hoben den Kopf mit jener erschrockenen Miene von Leuten, die man plötzlich überrascht und stört. Bonifacius, der ihnen mehr Überraschung, als Diensteifer ansah, wiederholte:

– Schnell, schnell! Diebe sind im Haus, ich habe Schreien gehört, es ist höchste Zeit!

Der Wachtmeister legte seinen Hammer bei Seite und fragte:

– Woher wissen Sie denn das?

Der Briefträger erzählte:

– Ich wollte eben die Zeitung und zwei Briefe abgeben, als ich bemerkte, daß die Thür noch verschlossen war und der Lehrer noch nicht aufgestanden sein konnte. Ich ging um das Haus herum, um mich zu überzeugen, und ich hörte Stöhnen, als ob jemand erwürgt würde, als ob man einem die Kehle durchschnitte. Da bin ich so schnell wie möglich fortgelaufen, Sie zu holen. Es ist höchste Zeit!

Der Wachtmeister richtete sich auf und sagte:

– Ja, haben Sie denn nicht selbst Hilfe geleistet!

Der erschrockene Briefträger antwortete:

– Ich fürchtete, einer Übermacht gegenüber zu. stehen.

Da meinte der Beamte überzeugt:

– Ich will mich nur schnell anziehen, dann komme ich.

Und er trat ins Haus, von seinem Gendarm gefolgt, der den Stuhl trug. Beinahe sofort erschienen sie wieder, und die drei setzten sich im Laufschritt in Bewegung nach dem Orte des Verbrechens zu.

Als sie sich dem Hause näherten, gingen sie vorsichtshalber langsamer. Der Wachtmeister zog seinen Revolver, und dann traten sie ganz leise in den Garten und näherten sich der Mauer.

Nirgends waren Spuren zu entdecken, daß die Verbrecher schon entflohen, die Thür war noch geschlossen, ebenso die Läden.

– Jetzt haben wir sie! – sagte der Wachtmeister.

Der alte Bonifacius zitterte vor Erregung, schickte den Wachtmeister auf die andere Seite des Hauses und zeigte ihm den Fensterladen.

– Dort! – sagte er.

Und der Wachtmeister trat ganz allein heran und legte sein Ohr an den Laden. Die beiden anderen warteten, auf alles gefaßt, starr die Augen auf ihn geheftet.

Lange blieb er unbeweglich stehen und lauschte. Um dem Fensterladen näher zu kommen, hatte er seinen Dreimaster abgesetzt und hielt ihn in der rechten Hand.

Was hörte er? Sein unbewegliches Gesicht verriet nichts, aber plötzlich sträubte sich sein Schnurbart, seine Wangen verzogen sich langsam wie zu einem Lächeln und indem er wieder die Wegeinfassung überstieg, näherte er sich den beiden anderen, die ihn unausgesetzt anstarrten.

Dann machte er ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen und sie gingen auf den Fußspitzen ihm nach. Als sie an den Eingang kamen, sagte er Bonifacius, er möge nur die Zeitungen und die Briefe unter die Thür stecken.

Der Briefträger war starr, doch er gehorchte.

– Und nun fort! – meinte der Wachtmeister, aber sobald sie das Gartenthor verlassen hatten, wandte er sich zum Briefträger und sagte mit ironischem Lächeln und verschmitzter Miene, indem seine Augen vor innerer Freude lachten:

– Sie sind aber ein Luder!

Der Alte fragte:

– Was denn? Ich hab's doch gehört! Ich schwöre Ihnen, ich hab's gehört!

Aber der Wachtmeister konnte nicht mehr an sich halten und platzte heraus. Er lachte, als solle er ersticken, beide Hände auf dem Bauch. Die Thränen traten ihm in die Augen, und er schnitt furchtbare Gesichter. Die beiden andern blickten ihn erschrocken an.

Aber da er weder sprechen konnte, noch aufhörte zu lachen, oder zu erklären vermochte, was geschehen sei, machte er eine bezeichnende Bewegung. Da man ihn jedoch noch immer nicht verstand, widerholte er das ein paar Mal und deutete dabei mit dem Kopf zurück auf das noch immer verschlossene Haus.

Der Gendarm verstand nun plötzlich und begann auch fürchterlich zu lachen. Der Alte aber blieb ganz dumm zwischen den beiden sich vor Vergnügen windenden Menschen stehen. Endlich beruhigte sich der Wachtmeister, klopfte dem Alten freundschaftlich auf den Bauch und rief:

– Na Sie kleiner Schäker! Die Morithat werde ich mir merken!

Der Briefträger riß groß die Augen auf:

– Aber ich schwöre Ihnen, ich hab's gehört!

Der Wachtmeister begann wieder zu lachen, der Gendarm hatte sich auf den Grabenrand ins Gras gesetzt und wand sich gleichfalls vor Lachen.

– Hat's gehört! Na, ermordest Du Deine Frau auch so? Du alter Witzbold!

– Meine Frau?

Er dachte lange nach, dann sagte er:

– Na, wenn ich meine Alte verdresche, dann heult se und wie heult se! Verdrischt denn der Herr Schullehrer auch seine Frau?

Da packte ihn der Wachtmeister, als verlöre er vor Freude den Verstand, bei den Schultern, wirbelte ihn einmal herum und flüsterte ihm etwas ins Ohr, sodaß der andere vor Erstaunen sich garnicht fassen konnte.

Dann brummte der Alte nachdenklich:

– Nee, nee, so nich! So nich! So nich! Meine sagt garnichts! Das hätte ich nich gedacht, ist so was möglich! Da muß man doch an Mord glauben!

Und wie ein begossener Pudel schlich er durch die Felder davon, während der Wachtmeister und der Gendarm noch immer lachend ihm von weitem grobe Kasernen-Ausdrücke nachbrüllten, bis allmählich sein schwarzes Käppi über dem Riesenmeer der Saaten in der Ferne verschwand.
  →  SKDP/15/002-5.

SKDP/12/002-2. § 12. Ludwig Ganghofer: “Der Grauben-Teufel”

Home / 1113 / Lessico
Ludwig Ganghofer
Libero adattamento per finalità autodidattiche di testi e registrazioni di pubblico dominio tratti da Librivox. Acoustical liberation of books in the public domain. Testo tratto da Projekt Gutenberg.de e registrazione da Librivox.org Serie: Sammlung kurzer deutscher Prosa 002/2. - Nostra numerazione del Brano: 12. Reader: Dirk Weber / download  di “Der Grauben-Teufel” (2).  Etext: doktus  - Dizionari: Dicios; Sansoni:.


§ 13. Der Grauben-Teufel
Ludwig Ganghofer
(1855-1920

Jeder Weidmann ist abergläubisch. Es ist das ein Satz, den man gern belächelt. Aber es hat damit seine Richtigkeit, und sollt' es nur insoweit der Fall sein, daß jeder Weidmann sich ärgert, wenn ihm des Morgens beim Auszuge zur Jagd ein altes Weib begegnet.

Der Jäger aus Passion ist abergläubisch, weil der Aberglaube nun einmal zum richtigen Sport gehört. Der Berufsjäger des Flachlandes ist abergläubisch aus Erziehung, denn neben der Kunst des Weidwerks lernte er den Aberglauben von seinem Lehrmeister, der wieder von einem älteren diese Sprüche und Munkeleien übernahm, die in eine Zeit zurückdatieren, in welcher der Aberglaube noch Glaube war.

Ganz anders verhält sich die Sache beim Hochlandsjäger. Die Majestät der Berge wirkt einen unsichtbaren Zauber um Herz und Sinne und zwingt selbst in den klügsten Kopf Gedanken, wie sie der friedsame und aufgeklärte Stadtbewohner nur aus den Märchenbüchern seiner Jugend kennt. Solch ein Empfinden läßt sich nicht mit Worten sagen. Nur jener weiß es zu fassen, der diese stumme und doch so beredte Einsamkeit der Berge kennt, nur jener, der durch lange Stunden dem geheimnisvollen Rauschen der Hochlandsföhren lauschte und dem donnernden Liede der Regenstürze und horchend stand, wenn durch die dunklen Schluchten das Echo des Schusses hallte, dumpf und grollend, daß es sich anhört wie ein drohendes Zürnen des Alpengeistes, dem man wieder eines seiner Kinder stahl.

Der kluge und gebildete Tourist, den der Zufall in einem Bergwirtshause mit einem Jagdgehilfen zusammenführt, schüttelt wohl mit ungläubigem Lächeln den Kopf, wenn er da die eine oder die andere seltsame und ungeheuerliche Geschichte hören muß. Es ist auch wirklich nur ein Zufall, wenn er solche Dinge zu Gehör bekommt. Und er hat es dann weniger dem Zauber seiner Gesellschaft als der zungenlösenden Wirkung des Weines zuzuschreiben. Der Jäger des Hochlandes ist schweigsam; er entwöhnt sich des Redens in der wochenlangen Einsamkeit. Und dennoch ist er nicht einsam dort oben. Die ganze Natur spricht mit ihm, durch das Rauschen der Bäume, durch das mahnende Poltern der abrollenden Steine, durch den Vogelruf, durch das Pfeifen der Gemsen wie durch das Sdireien der brünstigen Hirsche. Er versteht diese Sprache, wenn auch auf seine eigene Weise. Wirkt doch der Zauber der Natur auch auf das Herz des Ungebildeten, wenn er dann auch nicht imstande ist, über die eigene Empfindung zu klarem Verständnis zu kommen. Und so wird für ihn die Naturpoesie zum Aberglauben. Er personifiziert das ganze ihn umgebende stille Leben, die Tiere werden ihm zu gleichfühlenden und gleichdenkenden Wesen. Alles, was er sieht und hört, erklärt er sich nach bestem Wissen und Können. Steht er aber plötzlich vor einem gewissen Etwas, das ihm gegen alle Gewohnheit und Vernunft geht, so hilft ihm nur sein Gespenster- und Teufelsglaube zu einer befriedigenden Erklärung.

Aber nicht nur der Ungebildete erliegt diesem Banne. Ich kenne Forstleute in unseren Bergen, die in der einen Stunde von ihren Universitätsjahren plauderten, in der anderen mit Kopfschütteln und Achselzucken erzählen, wie sie an einem Freitag ein Stück im Schnall niedergeschossen, am Schußplatz aber weder Stück, noch Schweiß, noch Fährte gefunden hätten. Oder wie gruselig es wäre, wenn man einen weidwunden Bock trotz des kunstgerechtesten Knickens nicht zum Verenden bringen könnte.

Wer immer mit der Büchse hoch oben hinzieht über schwindelnde Steige auf einsamer Pirsch – sie alle, alle sind abergläubisch. Auch ich bin es geworden, wenn ich es im eigentlichen Sinn des Wortes auch nur eine einzige Sekunde war.

Die Liebe zur Jagd und zu den Bergen meiner Heimat hatte mich wieder einmal zur Sommerszeit nach dem schönen und wildreichen Oberisartal geführt. Ein paar Wegstunden hinter Lenggries in einem kleinen, von massigen Bergzügen umschränkten Talkessel dicht hinter dem Zusammenflusse der Walchen, Dürrach und Isar liegt der kleine Weiler Fall, ein herrlicher Fleck Erde, den ich mir für diesmal zum Standquartier erkoren hatte, um von hier aus meine Jagdausflüge nach den umliegenden Bergen und nach den hochstämmigen Forsten der Jachenau zu unternehmen.

Der schöne Sommer wanderte schon in den September hinein, und die Birkenblätter begannen zu vergilben. Da stieg ich eines Tages lange vor dem Morgengrauen bergauf zu einer Gemspirsche, deren Verlauf mich für die Dauer einer Sekunde zum krassesten Aberglauben verführen sollte.

Dicht und schwer lag der Nebel noch auf Wasser und Flur, als ich um vier Uhr die Dürrachbrücke überschritt. Außer dem Klappern meiner genagelten Bergschuhe störte kein Laut die tiefe Morgenstille; nur späterhin, als ich die ersten dampfenden Waldwiesen betrat, hörte ich den leichten Fußschlag des flüchtenden Wildbrets. Ich schritt bergan, empor über den Nebel des Tales, der mich aber bald wieder überholte. Zerrissen und zerteilt durch die massigen Stämme, flatterten die wandelsüchtigen Nebelgestalten vor mir die Höhe hinan, legten sich da und dort für einen Augenblick wie ein leichter duftiger Schleier über Stein und Busch und huschten empor durch die stillen Aste, um vereint über den Wipfeln aufzuschweben in den blauenden Himmel.

Durch einzelne Lücken der Bäume winkten die felsigen Bergspitzen zu mir herunter, erglühend unter dem Morgenkuß der aufgehenden Sonne. Da klang der erste Drosselschlag, dann das schüchterne Zwitschern der erwachenden Meisen.

Bedächtig, wie es einem richtigen Steiger geziemt, war ich drei Stunden emporgestiegen, als ich mich niederließ, um auszurasten, meine Büchse nachzusehen und den Tau davon zu wischen, den das hohe Berggras an Schloß und Schaftung abgestreift hatte. Es gehört zum Verständnis des Nachfolgenden, wenn ich über dieses Gewehr ein paar Worte des Lobes einflechte. Es war eine Doppelbüchse; die beiden kurzen Gußstahlläufe waren von feiner Arbeit, und bis auf zweihundert Gänge schossen sie die beiden Kugeln in gleicher Höhe auf Doppelzollweite nebeneinander. Manch schönen Schuß hatte ich mit dieser Büchse schon getan, auf eine Distanz, daß der besorgte Jagdgehilf mir während des Zielens abmahnend zuflüsterte: »Es reicht net, und es reicht net hin!« Meine Hand und mein Auge ließen mich auch nicht leicht im Stich, und so war ich mit dieser Büchse meines Schusses sicher – wenn ich nur zu Schuß kam.

Nach weiterem halbstündigen Steigen befand ich mich in Wildhöhe, an jener Stelle, wo von dem zur Bergschneide emporführenden Pfad sich der eigentliche Jagdsteig abzweigte, um in gleichbleibender Höhe den ganzen Bergstock zu umkreisen, aus- und einbiegend über Felsrücken und Klüfte.

Mit dem Betreten dieses Pfades beginnt die bestrickende Aufregung eines solchen Pirschganges. Langsam, Schritt für Schritt, mit den Augen überall, geht es dahin über den schmalen, oft gefahrvollen Steig. Mit immer gleicher Vorsicht setzt der Jäger Fuß und Bergstock an, nicht etwa um sicher zu stehen, denn des Gedankens an die Gefahr hat er sich längst entwöhnt – nein, er scheut nur ängstlich selbst das geringste Geräusch. ›So a Ludersgams hört dich ja schon, wann d' schnaufst!‹ Nähert sich der Steig einer Felskrümmung, so schärft sich Aug' und Ohr, lautlos schiebt der Jäger das halbe Gesicht über die Ecke und späht hinein in die dunkle, schattenvolle Schlucht, um dann blitzschnell die Büchse vom Rücken zu reißen oder mit mühsam unterdrücktem Unmut weiter zu steigen auf dem beschwerlichen Wege.

Das letztere schien für diesen Pirschgang mein Schicksal zu sein. Unter einem ständigen Wechsel von Enttäuschung und neuer Hoffnung war ich umhergestiegen an die fünf Stunden. Die besten Gemsbestände hatte ich aufgesucht, und wo ich früher oft ›ein' Bock schier mit dem Bergstecken hätt derschlagen können‹, sah ich jetzt nur eine Gemsgeiß, die mit ihrem Kitz gemütlich über das Steingeröll trollte und unbekümmert um meine Nähe die salzigen Felswände beleckte.

Einem vierjährigen Schwächling war ich bis auf Schußweite nahegekommen; aber ich hatte ihn wieder laufen lassen, um mir nicht die Möglichkeit eines besseren Schusses zu verderben. Jetzt freilich ärgerte ich mich, daß ich dem Burschen nicht eins aufs Fell gebrannt hatte, um wenigstens nicht mit leerem Rucksack heimwandern zu müssen.

Aber mir blieb eine einzige, wenn auch sehr vage Hoffnung. Ungefähr eine halbe Stunde tiefer auf dem Berghang lag der Teufelsgraben, eine schwer wegsame, wildzerrissene Schlucht, die auf der Revierkarte unter dem Namen ›Hochgraben‹ verzeichnet steht. Aber der Förster und die drei Jagdgehilfen nannten sie den Teufelsgraben, und das aus einem ganz bestimmten Grunde.

Gleich während der ersten Zeit meiner Anwesenheit in Fall war ich eines Abends mit einem der Jagdgehilfen hinter dem Maßkruge gesessen, als ein anderer Gehilf in die Stube trat und meinem Gesellschafter schon von der Türe zurief:

»Du! Heut hab ich den Grabenteufel wieder gsehen.«

Natürlich fragte ich sofort nach dem Sinn dieser rätselhaften Mitteilung. Und so erfuhr ich, daß der ›Grabenteufel‹ ein alter Gemsbock wäre, mit dem es seine eigene Bewandtnis hätte. Seit Jahren hielte er seinen immer gleichen Stand im Teufelsgraben. Aber weder einem der Jagdgehilfen, noch dem Förster, ›der doch gwiß a richtiger Gamsjager is‹, wäre es trotz aller Mühe, List und Ausdauer gelungen, diesen Bock zu erlegen.

»A Kerl, zottlet wie a Bär!« So lautete die Schilderung des Jagdgehilfen. »Und mit a Paar Krucken wie nochmal a Teufelskrönl! Und wann auf ihn gehst: Hören tust ihn jedsmal, sehen diemal, derschießen niemal! Denn wann auch zum Schießen kommst, so fehlst ihn.«

Ein paar Tage nach diesem Vorfall ließ ich mich von dem Jagdgehilfen der Neugier halber nach dem Teufelsgraben führen. Und wirklich – lautlos waren wir schon auf stundenlanger Paß gesessen, da prasselte es plötzlich von abfallenden Steinen, und jenseits des Grabens sah ich einen dunklen Schatten durch die Latschen huschen.

»Ich sag's halt allweil«, meinte mein Führer, als er sich erhob, »mit dem Bock is was net richtig!«
Und dieser Bock war jetzt meine letzte Hoffnung. Ach, Herr Jerum! Aber probieren kostet ja nichts.
Ich hatte noch eine gute Stunde Zeit, bis ich für eine Pirsch am Teufelsgraben guten Wind bekommen mußte. Allerdings hatte ich auch noch einen kleinen Umweg zu machen, um den Wind abzufangen. Als ich am Teufelsgraben angelangt war, murmelte ich spaßeshalber ein ›Weizsprüchl‹, oder, um mich verständlich auszudrücken, einen weidmännischen Gespenstersegen, den ich von einem der Jagdgehilfen gelernt hatte:

»Was ich versündigt, büß ich!
Was ich dersieh, derschieß ich!
Ich will auch einmal selig wern –
Alle guten Geister loben Gott den Herrn!«

Nun ging es am Rande des Grabens talwärts, langsam und lautlos. Von fünfzig zu fünfzig Schritt pirschte ich mich vor an den Absturz, so daß ich immer einen Teil der Schlucht übersehen konnte. Keinen Winkel und keinen Latschenbusch ließ ich unbeschaut. Aber nicht ein Haar bekam ich zu Gesicht.

Endlich war ich in der Nähe des Platzes, wo ich bei meinem ersten Besuche den Grabenteufel mehr gehört als gesehen hatte. Etwa dreißig Fuß unter mir sprang eine grasige Platte in die Schlucht hinein, von wo aus ich ein gutes Teil der tiefen Felsrinne hinauf und hinunter übersehen konnte. In aller Vorsicht und Stille stieg ich nieder und machte mir's bequem. Ich hatte noch ein paar Stunden vor mir, denn wenn ich um sechs Uhr mich zum Heimweg richtete, konnte ich immer noch vor Einbruch der Nacht nach Hause kommen.

So paßte ich und paßte. Aber nichts regte und rührte sich.

Die Sonne war schon hinuntergezogen über den Rücken eines Berges, lang und dunkel schlichen die Schatten über die Höhen herauf, und leise begann es in den Büschen und Bäumen zu rauschen von dem immer stärker ziehenden Abendwind. Ich war müde und hungrig, und mich begann zu schläfern. Um mich munter zu erhalten, nahm ich meine Patronen aus der Tasche, sah die Kugeln nach; und um mich zu vergewissern, daß sich die Ladung nicht gelockert, rüttelte ich die Patronen vor meinem Ohr, eine nach der anderen, alle sieben, die ich bei mir trug.

Dann wieder studierte ich die Konturen der Wandrisse und Abstürze und bohrte den Blick in jeden Schattenwinkel und in alle Felslöcher und Wandnischen. Dabei summten mir die Bergschnaken mit ihrem eintönigen Lied um die Ohren und zerstachen mir Hände und Knie.

Mein Jagdeifer begann nachzulassen, und recht unweidmännische Träume gaukelten vor meinen Augen auf und nieder, Träume von Teufeln, Zwergen und Berggeistern. Manchmal klang es , aus diesen Bildern wie ein geltendes Hui-hö! – und meine Phantasie sah unter Dampf und Nebel den leibhaftigen Gottseibeiuns mit einem Paar der herrlichsten Gamskrickeln auf dem pechrabenschwarzen Krauskopf emporsteigen aus der Tiefe der Schlucht.

Besonders jenes dunkle Felsloch mir schräg gegenüber hielt ich in meinen lustigen Teufelsphantasien für nicht ganz geheuer. Da drin war es schwarz wie die Nacht. Ein eigentümliches Verlangen regte sich in mir, hinüberzusteigen und dort hineinzugucken. Von meinem Platze hinunter in die Schlucht, das ging. Ob ich aber drüben wieder hinaufkam, das war zweifelhaft. Ich nahm mein Glas zur Hand und musterte das Terrain des genaueren. Nein, es war wirklich unmöglich, von unten aus da emporzusteigen. Aber vom jenseitigen Rande der Schlucht führte ein leicht erkenntlicher Gemswechsel bis zur Felsplatte, von der aus die Höhlung sich in den Berg senkte.

Heiliger Gott! Wahrhaftig! Im Dunkel der Höhle unterschied ich deutlich durch mein Glas die Umrisse eines ruhenden Tieres. Aber unmöglich vermochte ich zu erkennen, was es war. Lautlos stand ich auf, legte das Gewehr in Anschlag, ein kurzer scharfer Pfiff gellte von meinen Lippen, das Tier sprang auf, und mit der Brust gegen mich, in der Luftlinie höchstens auf sechzig Gänge, stand ein Gemsbock da, wie ich keinen zweiten mehr gesehen habe. Der Grabenteufel!

Im gleichen Augenblick krachte es auch. Und noch einmal. Der Pulverdampf verzieht sich. Und auf dem gleichen Platze steht der Bock mit gespreizten Läufen, die großen funkelnden ›Lichter‹ regungslos nach mir gewandt.

Gefehlt? Nein, das war nicht möglich! Mit diesem Gewehr und auf diese Distanz! Entladen und laden, das war ein Augenblick. Ich schoß. Und wieder. Das Tier stand unbeweglich. Mein Herz schlug wie ein Hammer, und siedheiß stürmte mir das Blut in die Schläfe. Wieder lud ich. Und schoß –, und schoß –, der Grabenteufel rührte sich nicht. Da lief ein Schauer über meinen Leib. Ich fühlte, wie mir das Blut aus Kopf und Gliedern floh und sich zusammendrängte im Herzen. Und während ich mit zitternder Hast nach der letzten Patrone suchte, glitt es von meinen Lippen: »Alle guten Geister loben Gott den Herrn!« Ich lud. Mit dem letzten Aufgebot meiner Willenskraft riß ich das Gewehr an die Wange. Und schoß. Das Tier stand wie aus Stein geformt. »Der Teufel! Der leibhaftige Teufel!« Und mir graute.

Da stieß ich einen heiseren Schrei aus der Kehle – denn das Tier neigte sich vornüber, fiel nieder, fiel mit dem halben Leib hinaus über die Felsplatte, und zwei-, dreimal an Steinvorsprüngen aufschlagend, stürzte es hinunter in die Tiefe der Schlucht. Aufatmend schüttelte ich den Kopf, trocknete meine Stirn, auf welcher der Schweiß in kalten Tropfen stand, versuchte zu lächeln – und schämte mich.

Der Abstieg zu dem verendeten Gemsbock war ein schweres Stück Arbeit. Als ich ihn aufbrach, sah ich, daß alle sieben Schuß getroffen hatten. Schon der erste, sicher aber der zweite, mußte tödlich gewesen sein.

Alte Jäger erzählen, es käme zuweilen vor, daß ein Stück Wild nach einem Kernschuß in Starrkrampf verfiele. War das hier der Fall gewesen? Ich weiß nicht – vielleicht!

Als ich mit dem Bock auf dem Rückcn zu Hause anlangte, wollte der Förster kaum seinen Augen trauen. Immer und immer wieder mußte ich die dunkle Geschichte berichten, die er kopfschüttelnd mit anhörte. Und am folgenden Tage erzählte ich sie auch dem Jagdgehilfen, der mich zum erstenmal nach dem Teufelsgraben geführt hatte.

»So, so! Erst mit dem siebenten Schuß?« Der Jäger zog die Brauen in die Höhe.»Ja, ja! Da glaub ich's schon. Der Siebener is für so was a heikle Zahl!«

Der Bock wog aufgebrochen vierundsiebzig Pfund, und seine Prachtkrickeln zeigten deutlich dreizehn Jahresringe.

»Ja, ja! Der Dreizehner halt!«